03.04.2022 um 15 Uhr Lutherkirche Barmen

'Mach einmal mein Ende gut' I

„Großes Concert“

Der Tod bei Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadé Mozart

 

Johann Sebastian Bach (1685–1750) Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit („Actus tragicus“) BWV 106

Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791) Sinfonie Nr. 40 g-moll KV 550

Johann Sebastian Bach (1685–1750) Missa brevis g-moll BWV 235

 

Solistenensemble der Barmer Bach-Tage

Dorothea Brandt – Sopran, Heike Bader – Alt, Leonhard Reso – Tenor, Maximilian Schmitt - Bass

Capella Pax Westphalica

Dr. Matthias Lotzmann – Leitung

Konzereinführung

Gerade achtzig Jahre, die Spanne eines Menschenlebens, liegen zwischen der Entstehung der Mühlhausener Trauerkantate „Actus tragicus“ BWV 106 aus der Zeit 1707/1708 von Johann Sebastian Bach (1685–1750) und der berühmten Sinfonie KV 550 von Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791) in ihrer ersten Fassung vom 25. Juli 1788. Unterschiedlicher könnten diese Werke nicht sein, so dass die Frage nach der Präsentation dieser Stücke innerhalb eines Konzertes berechtigt erscheint.

 

Es ist der Zeitraum, in welchem sich ganz Europa in einem tiefgreifenden weltanschaulichen Wandel befindet, der seinesgleichen weder davor noch danach vergeblich sucht. Die radikale Umkehrung aller Werte führt zur Geburt einer bürgerlichen Kultur, die erst in unseren Tagen ihrem Ende entgegen zu streben scheint. 

In Deutschland ist die Aufklärung Trägerin zugleich auch eines veränderten kulturellen Selbstverständnisses; in der Musik nimmt man den „neuen“ Ton, den „neuen“ Klang wahr. Gerade die musikalische Kunst war bis nach 1700 Medium eines welterklärenden Anspruchs. Die göttlichen und kosmologischen Gesetzmäßigkeiten offenbarten sich mutmaßlich in den Gesetzen der Musik. Ihr Wohlklang hatte sinnstiftenden Charakter, das Klang gewordene Gotteswort hatte selbst (vor allem im Bereich der Kirchenmusik) die Eigenschaften des Heiligen. Die musikalische Metaphorik bezog sich häufig auf die Begriffe „Licht“, „Herz“ und „Ohr“. Die engste Verbindung zwischen dem Vermächtnis göttlicher Offenbarung in der Musik sollte dieser Kunst seit der Aufklärung zum Verhängnis werden. Denn Erkenntnis war dort an die „Vernünftigkeit“ gebunden. Sie ist das eigentliche „Licht“ der neuen Zeit. (Für die Aufklärung steht im Französischen „siécle de lumières“, im

Englischen „age of enlightenment“.) Die Musik ist nicht Hüterin eines göttlichen Geheimnisses, sondern sinkt zu einer „sekundären“ Kunst ab, in der ein „guter Geschmack“ für die Qualität eines Werkes und der Applaus eines sich in der Öffentlichkeit versammelnden „Publikums“ über Erfolg und Misserfolg entscheidet.

 

Bachs Kantate und die sogenannte „große“ g-moll-Sinfonie Wolfgang Amadé Mozarts – wie geht das zusammen? Die beiden Werke zu Beginn und am Ende dieses Konzertes sind in die benannte radikale Zeit des Wandels eingespannt, markieren Anfang und Ende derselben. Anhand des Generalthemas der diesjährigen 3. Barmer Bach-Tage „Die Leidenschaft Johann Sebastian Bachs und die musikalische Passion Jesu Christi“ soll gezeigt werden, wie sich der innere Verständniswandel in Werken und Klängen niederschlägt. In diesem Zusammenhang lässt ein Satz des österreichischen Musikwissenschaftlers Gernot Gruber in seiner „Kulturgeschichte der europäischen Musik“ (Kassel 2020, S. 310) aufmerken. Denn anders als in der genannten Überschrift ist der Gegenstand der Passion nicht länger der gekreuzigte Schmerzensmann Jesus von Nazareth, sondern vielmehr der Mensch als Künstler und Virtuose, kurzum – das Genie selbst: 

 

Als Folge dessen wurde der Begriff des »Geschmacks« aufgewertet. Die Perspektive der

Ästhetik verlagerte sich dadurch vom verstandesmäßigen Erfassen – wie in der Tradition der »artes mechanicae« und der »artes liberales« – auf die Wirkung der Kunst im Zusammenspiel des Schaffens, Vermittelns und Wahrnehmens. Demnach ist der Künstler, der die »Natur« in ihrem Wesen nachahmt, kein bloßer Handwerker, sondern ein »Genie« bzw.  »Originalgenie«– wohl in Erinnerung an Gedanken Platons.“

 

 

(Buntglasfenster über dem Nord-Portal im Langhaus der Divi-Blasii-Kirche (Mühlhausen, Thüringen), der Wirkungsstätte Johann Sebastian Bachs 1707/08 / Bildnachweis: Wikipedia)

Aus der Meditation über den Tod Jesu erwächst im Laufe des 18. Jahrhunderts ein Nachdenken für das Sterben und den Tod selbst, was letztlich nicht weniger als eine Eskalation des menschlichen Leidens an sich selbst darstellt. Die Befreiung, welche die Aufklärung zu verkörpern scheint, birgt auch eine weitere Fracht: den im Grundsatz tragischen Charakter des  Menschen, eine Quelle, die zugleich Leiden schafft und zu den höchsten Höhen neuzeitlicher Kunst führt.

 

Wenden wir uns erneut der Überschrift der Barmer Bach-Tage zu. Sie ist mit der Frage nach der Bedeutung des Todes in der Musik verbunden und betrachtet die Verbindung zwischen dem Tod des Menschen und dem Sterben Jesu am Kreuz von Golgatha. Das Konzert wird mit einer Trauerkantate Johann Sebastian Bachs eröffnet, deren Klangbild uns Heutigen ganz fremd erscheint. Blockflöten und Violen prägen das Bild, wirken zerbrechlich, leise und in der Präsentation der musikalischen Figurensprache fern. Es ist die womöglich früheste uns bekannte geistliche Kantate Bachs, entstanden 1707/08 im thüringischen Mühlhausen. 

 

Menschliches Sterben und die Endlichkeit des irdischen Lebens werden zu Auferstehung und ewigem Leben in

Beziehung gesetzt. Dies hat bezüglich des Aufbaus der Kantate ein Analogon in der Anführung des Alten und des Neuen Bundes. Für Bach, geboren in der Nachkriegszeit des Großen Dreißigjährigen Krieges, geht es in diesem Bild um ein für ihn theologisch unaufgebbares Streben nach gott-bezogener Erkenntnis im Umgang mit dem Thema „Tod“.  Ein am Evangelium orientiertes Leben zu führen und sich einem ebensolchen Sterben anheim zu stellen, markieren die Pfeiler seines inneren Daseins – in seinem Leben wie in seiner Kunst. Die weiterführende Perspektive nach dem Auszug aus dieser Welt ist für ihn eine Existenz bei Gott. Bach bindet seine Gewissheit an die Verheißung und Offenbarung Gottes, der sich an das Geschick und das Schicksal des Menschen bindet und gebunden hat. Grundlage dieses zentralen Aspektes, dem Gerechtfertigtsein, ist der Komplex des Gotteshandelns in Christus Jesus. Dieser ist es, der durch sein Leiden und Sterben die Annahme des Menschen vor dem richtenden Gott be- und erwirkt hat. („Aus Liebe will mein Heiland sterben“, lautet der Anfang der entsprechenden Arie der Matthäuspassion).

 

Dieser historisch theologische Zusammenhang berührt den gläubigen Menschen zu allen Zeiten. Nicht er, sondern jener handelt und erwirbt die ersehnte Teilhabe an der Natur Gottes. Es ist dies das Wesen des Getröstetseins, von der die prophetischen Schriften künden. In diesem Trostbild kommt der Kreuzestod des Gottessohnes unserem eigenen Tod ganz nahe. Der menschliche Tod ist darin nicht lediglich enthalten, sondern noch viel mehr; er ist in Christus „aufgehoben“. Für Bach ist diese Perspektive für die Ausrichtung seines gesamten Schaffens frömmigkeitsbezogen bindend und bis in seine musikalischen Sinnstiftung prägend. 

 

Das gilt für die frühen Kantaten (Christ lag in Todesbanden, BWV 4) und (Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit („Actus tragicus“) BWV 106) aus der Zeit nach 1700 genauso wie vierzig Jahre später für die Revision seiner Missa Tota in h BWV 232 kurz vor seinem Lebensende in Leipzig gleichermaßen. Nicht nur das Gegründetsein in der Heilstat Gottes, sondern mit ihm in einer unauflöslichen Bindung zu leben, zu existieren, dem auch kein Tod etwas anhaben kann, war für Bach bestimmend. In diesem Zusammenhang kann auch der sterbende Gottessohn noch am Kreuz das menschliche Leid lindern, Leben retten und trösten. Sich auf diese Haltung der Unio mystica einzulassen, empfiehlt der Komponist der Trauergemeinde in seiner Kantate. Nicht der Blick auf den Verstorbenen und das Andenken, auf den Gegangenen, sondern das  Aufschauen zum Gekreuzigten steht im Mittelpunkt seiner Trauermusik „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“. Und es ist auch an der Textstellenauswahl die Perspektivität und Tröstung zu erblicken: „… heute wirst du mit mir im Paradiese sein …“ Das ist die Ansprache Gottes, der im mystischen Dialog durch die Erwiderung „… ja, Herr Jesu, komm …“ entsprochen wird.

 

Diese Kantate nimmt auch im Gesamtschaffen eine Ausnahmeposition ein. Oft wird sie als „Geniewerk“ (Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach, S. 833) bezeichnet. Deutlich setzt sich dieses zur Gattung der Kirchenkantate zählende Werk, seine stilistischen Bezüge wahrend, von den Beispielen der Zeitgenossen ab. Die Bibeltextstelle und die Basis des Kirchenliedes bleiben verbindlich. Aber die hohe stilistische Qualität, die Ökonomie der Mittel, der quasi durchkomponierte Bogen ziehen den Hörer unmittelbar in seinen Bann. Gegenüber dem verwandten, ebenfalls 1707 komponierten Werk, der Kantate „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“ BWV 131 ist eine Reifung und Steigerung ohrenfällig. 

 

Inhaltliche Grundlage dieser Trauerkantate ist das Nachsinnen über die Zeitlichkeit des Lebens und die Unausweichlichkeit des Todes. Was ist gelingendes Leben, was ist verwirktes Dasein? Bach orientiert sich in der Beantwortung dieser Fragen an den biblischen Schriften (Apostelgeschichte 17,28; Psalm 90; Jesaja 38,1; Jesus Sirach 14,18; Offenbarung 22,20; Psalm 31,6; Lukas 23,43). Die Vielfalt dieser Quellen treten wie Zeugen für die Wahrhaftigkeit des Gesagten auf. Neben den biblischen Quellen sind es zwei Lieddichtungen, die zudem entweder instrumental zitiert oder auch textlich rezitiert, aufgerufen werden: „Ich hab‘ mein Sach‘ Gott heimgestellt“ von Johann Leon (1582/1589) und „In dich hab‘ ich gehoffet, Herr“ von Adam Reusner (1533).

 Auf eindrückliche Weise gelingt Bach eine zur Mitte hin orientierte Gliederung des Stückes, die sich bildhaft auf das „alte“ und das „neue“ Leben bezieht. Im Mittelteil kommt es so zu einer Zusammenballung aller Elemente; es gleicht einer kriegerischen Auseinandersetzung. Dürr schreibt: „Hier empfängt die alte Kunst mehrchöriger und mehrtextiger Motetten neues Leben […] Hier […] will es scheinen, als offenbare die Kompositionsform erst ihren Sinn und ihre Berechtigung, weil sie mit Notwendigkeit aus dem Gedankengang des Textes erwächst.“ (Dürr, a.a.O., S. 835) Die Mitte des Werkes fungiert gleichsam als Scheidewand. Hinzu tritt der Choral, welcher symbolisch den Sitz Christi und den Ort der Gemeinde verkörpert. Der „Actus

tragicus“ ist auch hinsichtlich seines inneren Aufbaus einzig im Kantatenschaffen Bachs. 

 

Altes und neues Leben finden in Bachs Musik ihre Entsprechung in „Gesetz“ und „Evangelium“. Christus hat die neue Ordnung gebracht. In ihm sind Zeit und Raum, und somit auch der Tod aufgehoben. In ihm ist das neue und unvergängliche Leben zu erblicken. Der Tod kann nicht mehr schrecken. Er ist entmachtet. Bei Bach erwächst diese Erkenntnis innerhalb des dogmatischen Gebäudes, wie sie die Reformation Martin Luthers mit sich brachte. Die Entmachtung des Todes wird auch bei Mozart das zentrale Thema sein. Wenige Zeit später wird dieser sein Kantatenmodell grundsätzlich neu ausrichten und ganz verändern. 

 

Im Zuge einer aufgeklärten Zeit kommt es in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu neuen Antworten auf die Sinnfrage. „Neue“ Modelle kommen in „Mode“. Die Philosophie läuft der Theologie den Rang ab, ohne dass letztere der Bedeutungslosigkeit anheimfällt.  Auch Gott hat sich der Aufklärung zu unterwerfen. Allerdings entfaltet sich ein Frömmigkeitsstil, der weitgehend eine ethisch-moralische Eigenschaft innewohnt. Am Ende wandeln sich theologische Muster in idealistische Forderungen um („so werden, wie Jesus war“). Nicht länger stellen die inneren Daseinsformen den Mittelpunkt des Interesses dar, sondern mehr und mehr prägen sich teleologische Strukturen immer weiter aus. Der Utilitarismus einer zunehmend prosperierenden Wirtschaft hinterlässt seine tiefen Spuren auch im Bereich der Geisteswissenschaften. Der Freiheitsbegriff jener Zeit konkretisiert sich stark an der Befindlichkeit des Individuums. Die gemeinschaftlichen Aspekte des Wandels erhalten eine nachrangige Bedeutung. Gemeinde und Gemeinschaft formieren sich zur Öffentlichkeit, zu einem Forum der Begegnung von Individuen, die in der Kultur des Meinungsaustausches, der Ausprägung eines mehr oder weniger verbindlichen „guten Geschmacks“ („goût“) zu-einander finden und einen allgemeinen Code ausprägen. Der Mensch entdeckt seine Erlebnisfähigkeit. Die Fähigkeit, zu empfinden und die Kompetenz, dieses Empfinden wiederzugeben, sich zu artikulieren, bestimmen fortan sein Wesen. 

 

Nicht mehr das Befolgen von musikalischen Regeln (wie in der barocken Welt) entscheidet über die Qualität von Musik, sondern die Ausprägung von allgemeinverständlichen Werkmustern, die den Geist der Zeit einfangen und wiedergeben. Diese Ästhetik des Ausdrucks bleibt ganz an die Diesseitigkeit der menschlichen Existenz des Menschen gebunden. 

 

 

Der Tod verweist nicht länger auf eine Vollendung des Lebens in der Ewigkeit. Zwar hat sich seit dem 17. Jahrhundert an der alltäglichen Allgegenwart des Sterbens sowohl medizinisch als auch sozial kaum etwas verändert, aber im Zuge der Umkehrung der Werte wurde der Tod als ein „Unterbrecher“ und „Begrenzer“ der Ausdrucksbezogenheit des menschlichen Daseins gesehen. Aus der Funktion eines architektonischen Portals wurde eine undurchdringliche Wand: unerbittlich, unabänderlich, grausam, empfindungslos. Der Tod rangierte demnach als eine das Leben bedrohende Größe und somit als ein Feind der Ausdrucksästhetik jener Zeit.

Gottfried van Swieten (1733-1803) (Bildnachweis: Wikipedia

Es ist Wolfgang Amadé Mozart, der sich in vielen Bereichen seines Schaffens mit diesem Thema auseinandersetzt. Der Tod als Sujet wird in den Wiener Jahren immer bedeutungsvoller. Seine stilistische Entwicklung „entzündet“ sich an seiner persönlichen Entwicklung und es scheint, als bedurfte Mozart dieser Entzündungen und Konfrontationen, um überhaupt schöpferisch sein zu können. „… und vor allem bleiben die Gründe und Umstände der Entstehung rätselhaft … Nahe liegt, dass er mit ihnen (den drei letzten Sinfonien) auf äußere Anregungen reagieren wollte.“ (Mozart-Handbuch, S. 313)

 

Das Thema „Tod“ ist als die eigentliche Ursache des Tragischen bei Mozart zu erkennen. Auch Mozart identifiziert ihn zunächst als eine Bedrohung, als den Beender allen menschlichen Liebens, der das geliebte Gegenüber raubt. Aber an diesem Punkt kommt es zu einer persönlichen Entwicklung Mozarts, die mit einem Verlassen der herrschenden Deutungsmuster seiner Zeit gleichzusetzen ist. Verwiesen sei auf den letzten Brief an den Vater aus Wien vom 4. April 1787 (Willi Reich, Wolfgang Amadeus Mozart, Briefe, Manesse, 1948, S. 332) 

Die dort beschriebene Haltung zum Tode schlägt sich unmittelbar in seinem Komponierstil nieder – aus dem schon in der 1770er Jahren von Vater und Sohn favorisierten „vermischten“ oder auch als (nord-) „deutsch“ bezeichneten Stil tritt die Gestalt seines Wiener klassischen Stils hervor. Die Auseinandersetzung mit dem Todesthema wird in Oper, Kammermusik, aber auch Sinfonik „verhandelt“. In diesem Zusammenhang hat auch die Begegnung mit dem Werk Johann Sebastian Bachs seit 1782 ihren Raum. „Ich gehe alle Sonntage um 12 Uhr zu Baron van Swieten, und da wird nichts gespielt als Händel und Bach.- Ich mach‘ mir eben eine

Kollektion von Bachischen Fugen …“ (Mozart in einem Brief an Vater Leopold, Wien 10. April 1782).

Nicht nur die Bachsche Kunst also, sondern auch Bachs Sicht selbst auf die Todesthematik wird Mozart beschäftigt und geprägt haben.

 

Mozart scheint im Widerschein des Todes auch die Begrenztheit jedweder Expressivität erkannt zu haben, eine Grenze, die zu überschreiten lebend nicht gelingen kann. Die Tiefe der Empfindung, die klangliche Darstellbarkeit eines tragischen Ausdrucks ist in seiner Sicht endlich. Im Werk und in der Kompositionstechnik Johann Sebastian Bachs erkennt Mozart nicht nur einen Lehrmeister, der ihn unbestreitbar musikalisch zu einem gänzlich reifen Stil hat finden lassen. Es ist auch das Prinzip des Bachschen Denkens (und Glaubens?), welches auch in den 1780er Jahren das Erscheinungsbild seiner Werke bestimmt: Ausdruck und Kontrapunktik, Chromatik und Kanon, Aphorismus und Gesetzhaftigkeit durchdringen sich innig, unauflöslich. Die Religiosität erfährt eine Bedeutungserweiterung von bisher nicht gekanntem Ausmaß. Extrem dramatische Ausdruckshaltungen und religiöse Deutung finden zusammen, das eine kann ohne das andere nicht sein – nicht bei Mozart. Mensch-liches Lieben und göttliche Liebe amalgamieren.

 

So ist es auch hinsichtlich der allgemeinen Kontrastbildung, wie sie Mozart assoziiert, was die Zeitgenossen jäh erschreckt und in Unruhe versetzt und die Nachgeborenen fasziniert. Lebensfreude und Todesahnung, Vitalität und Morbidität, Zuversicht und Verzweiflung, Liebe und Hass sind im natürlichen Kreis sich bedingende Komponenten. Bei Mozart fehlen jedwede Abgrenzung und Pufferung zwischen den exponierten Befindlichkeiten.

 

„Bizarr“ ist auch hier die zutreffende Bezeichnung. Aber so ist das Leben. Unvermittelt treten Situationen ein. Jäh ist der Abschied. Keine ausgewogenen Themenfelder, fein säuberlich voneinander geschieden. Seine Musik ist, ohne dieses wahrzunehmen und anzuerkennen, nicht vorstellbar. Seine musikalische Themenbildung ist ganz auf diese Perspektive ausgerichtet. Nicht, dass die Struktur den Gegensatz ertragen muss, sie ist ganz darauf ausgerichtet, letztlich daraus gemacht. Die Allgegenwärtigkeit des sich Widersprechenden lässt den Klang der Musik in die Sphäre des Unbenennbaren eintreten. Es fehlen Begriffe und die richtigen Worte, um den musikalischen Ein- und Ausdruck benennen zu können. Und genau diese Lage macht den Reiz der Musik Mozarts aus. Und sie ist nichts für schwache Nerven. Er demaskiert die Etikette als eine Scheinsicherheit, die die natürlichen Flüsse zu unterbinden sucht. Seine Musik ist undiplomatisch. Jederzeit kann die Überraschung durchbrechen, die Linie abreißen, die ritualisierte Rede und Gegenrede in ein Verstummen münden. 

 

Seine Sinfonie g-moll KV 550 wird als die mittlere von dreien im Sommer 1788 innerhalb weniger Wochen vollendet und ist bis heute zweifellos seine populärste Sinfonie, neben der Kleinen Nachtmusik vielleicht sein bekanntestes Orchesterwerk. Es ist bis heute nicht klar, aus welchem Anlass diese Werke entstanden sind – noch nicht einmal sind konkrete Aufführungen dokumentiert. „Drei Meisterwerke solchen Gewichts und ganz unterschiedlichen Charakters in so kurzer Zeit – das übersteigt jede normale Vorstellung vom schöpferischen Prozess; und dieses Faktum wird umso unerklärlicher, als kein Auftrag bekannt ist, der den Komponisten zu so schneller Produktion gedrängt hätte.“ (Volker Scherliess, Mozart-Handbuch, S. 312). Und sie sind hinsichtlich Machart, Instrumentierung und Ausdruck extrem unterschiedlich; ihre Zusammengehörigkeit liegt aber eben darin begründet. Sie bilden eine „Einheit aus Gegensätzen“. Plante er Academien auf Vorrat, Benefizkonzerte für die Tonkünstlersozietät, erwog er, noch einmal ganz neu zu beginnen und sich auf eine Kapellmeisterstelle zu bewerben, wofür er diese Werke vorgesehen hatte? 

 

Wir wissen es nicht. Für die Zeit 1788/1789 ist vieles im Unklaren. 

Das französische „ancienne régime“ liegt in den letzten Zügen. Es riecht nach Umsturz. In weniger als einem Jahr später sollte die Bastille erstürmt worden und die Französische Revolution in Gang gekommen sein. Mozart wird diese Vorgänge in seinen Briefen nicht erwähnen, wird sie nicht zum Thema machen. Aber seine Musik ist de facto eine revolutionäre. Er determiniert in seinen Opern und Sinfonien die Scheinwelten und entlarvt Lüge und Ignoranz. In der Sinfonie g-moll werden wir Zeuge der Umdeutung der Muster. Die musikalischen Überleitungszonen, Begleitstrukturen, also das Sekundäre und Dienende gestaltet er zu Bereichen um, in denen sich der Prozess und die Richtung der Musik entscheidet. Die Determination gipfelt in der Erhebung von motivischen Kleinstformationen, die letztlich ausschlagendgebend für Charakter und Affekt des Ganzen

werden. Das dem Kopfsatz folgende Andante ist seiner äußeren Erscheinung nach ein Schreittanz. Insofern repräsentiert er den herrschenden gout seiner aristokratischen Hörer- und Kundschaft. Dahinter aber werden auf hochdramatische Weise die elementaren Anliegen Mozarts verhandelt. Die Entkleidung der Scheinsicherheit als Fassade (als negativ empfundene Etikette), der jähe Abbruch und unvermittelt eintretende Kontrast als Ausdruck der Unvorhersehbarkeit aller Dinge führen den Hörer in die Gedanken- und Erlebniswelt eines Komponisten ein, dessen Anliegen längst nicht mehr die Zerstreuung und Unterhaltung des hohen Publikums ist. Dramatik, unbeantwortete Fragen, die Furcht vor der Zerbrechlichkeit menschlicher Selbstversicherungen, lassen eine aufgewühlte Hörerschaft zurück. Mozart fängt diese Entsetzlichkeiten durch seine souveräne Technik und gleichgewichtete Komposition auf. Aber wer genau zuhört, kann nicht beruhigt von dannen gehen. Sicherlich, Mozart war kein Staatstheoretiker und Gesellschaftskritiker, sondern Profiteur und letztlich gerade noch repräsentativ. Er war kein Apologet der Menschenrechte, klagte keine idealistische Gesinnung ein, wie dies nach ihm für Beethoven kennzeichnend werden sollte. 

 

Aber in der inneren Sphäre hat er das todgeweihte Beharren Sarastros als negativ konnotiert und die echte Empfindung der „Königin der Nacht“ zu würdigen gewusst. Was gut schien, ist böse. Was immer abgewiesen wurde, gereicht nun zum Heil. Und tatsächlich, das ist revolutionär. Seine Klanglichkeit, seine musikalische Syntax hat mit der Musik des alten Frankreichs nicht mehr gemein. Die alte Welt stirbt und erleidet den Tod. Wo hat sich Mozart verortet? Er hält uns seine alles lindernde Forderung entgegen: „Die Entdeckung der Liebe“ als versöhnende, friedensstiftende Geste. Bezüglich dieser inneren Bedeutungsebene lässt Mozart die barocke Musikästhetik sicherlich vollkommen hinter sich. Das zeigt sich schon in der Wahl der außergewöhnlichen Tonart g-moll. 

 

Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791) vermerkt in seiner Tonartencharakteristik für g-moll die Stichworte: „Mißvergnügen, Unhehaglichkeit, Groll und Unlust“. Es wird deutlich, dass diese Beschreibung auf das Werk Mozarts nicht mehr passt. Es geht ihm um „menschliches Empfinden, das alle Nuancen umfasst“ (Scherliess, Mozart-Handbuch, S. 320). Wenn alle Nuancen abgebildet werden, ist diese Kunst Mozarts universal, und es verwundert nicht, wenn in der Geschichte ihrer Rezeption geradezu Gegensätzliches unter dem Hör-eindruck stehend, verzeichnet wurde: „Lust und Leben“ (Abert 1921, II, S. 579), „nur Schmerz und Klage“ (Kunze 1968, S. 45)

 

Der Eindruck, den die Bachsche Musik auf ihn machte, mag mit auslösend für das Kompositionsvorhaben einer Missa solemnis im Jahr 1782 unmittelbar nach der Übersiedlung von Salzburg nach Wien und im Beginn einer freischaffenden Musikerkarriere gewesen sein. Die geplante Dimension sprengte alle bis dahin entstandenen geistlichen Werke Mozarts und kommen diesbezüglich der großen Messe Bachs nahe. Womöglich haben Konstrukt, Geschlossenheit und Ordnung der Messe beide Komponisten, nicht in der Zeit, aber im systemischen Denken und Komponieren zusammengeführt.

 

Auch in der Ordnung der Messe sind für Mozart der menschliche Tod und das göttliche Sterben aufeinander bezogen und es entsteht dort ein Sinngefüge, in dem die letzten Dinge nicht furchtbesetzt bleiben, sondern letztlich in der Auferstehung Jesu Quelle des Trostes und der Ausrichtung von Glauben und Leben dienen.

Aber nicht nur die Auseinandersetzung Mozarts mit dem Schaffen Johann Sebastian Bachs, nicht nur im Erkennen der Todes- und Lebensthematik als zentrales Sinngefüge, nicht nur die „Begegnung“ in der Gestalt der Messkomposition rückt diese beiden Komponisten qualitativ zusammen.

 

Auch die Resonanz der jeweiligen Zeitgenossen zeigt eine deutliche Reserviertheit und Kritik am ästhetischen Bild der Werke. Vor allem die geistlichen Kantaten und Passionen Bachs und die späten Sinfonien Mozarts stoßen auf ein heftiges, ablehnendes und unverständiges Echo. Mozart sogenannter „vermischter“ Stil in seinen letzten Sinfonien löste keineswegs Begeisterungsstürme aus. Das mag umso mehr verwundern, als es gerade diese Werke sind, die wir heute typisch mozartisch nennen. Sind denn beide Komponisten Fremde in ihrer Zeit?

Der Schweizer Hans Georg Nägeli (1773–1836) formuliert in seinen Vorlesungen über Musik (1825 [also in Kenntnis der Sinfonik Ludwig van Beethoven!!]): „… der … ein »unreiner« Instrumental-Componist genannt werden muss, der die Cantabilität mit dem freyen, instrumentalischen Ideenspiel auf tausendfach bunte Art vermengte und vermischte, vermöge seiner Erfindungsgabe, seines Ideenreichthums eine ungeheure Fermentation in das ganze Kunstgebiet hineinbrachte, dadurch vielleicht mehr mißbildend als bildend, aber mächtig aufregend wirkte, und das war Mozart. Gefühlsheld und Phantasieheld in gleichem Maaße, voll Drang und Kraft, erscheint er in vielen seiner Compositionen augenblicklich – um mich bildlich auszudrücken – als Schäfer und Krieger, als Schmeichler und Stürmer; weiche Melodien wechseln häufig mit scharfem, schneidendem Tonspiel, Anmut der Bewegung mit Ungestüm. Groß war sein Genie, aber ebenso groß sein Geniefehler, durch Contraste zu wirken.“ (Mozart-Handbuch, S. 315) 

 

Johann Adolf Scheibe formuliert in seiner musikalischen Zeitschrift Der Critische Musicus, Hamburg 1737, über den „Vornehmsten der Musicanten“, ohne den Namen Johann Sebastian Bach zu erwähnen (alle Welt wusste natürlich, wer gemeint war …): „Dieser große Man würde die Bewunderung gantzer Nationen seyn, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzu große Kunst verdunkelte. Weil er nach seynen Fingern urteilt, sind seine Stücke außerordentlich schwer zu spielen; denn er verlangt die Sänger und Instrumentalisten sollen durch ihre Kehle und ihre Instrumente eben daß machen, was er auf dem Claviere spielen kan. Dieses aber ist unmöglich. Alle Manieren, alle kleinen Auszierungen, und alles, was man unter der Methode zu spielen verstehet, druckt er mit eigentlichen Noten aus; und das entziehet seinen Stücken nicht nur die Schönheit der Harmonie, sondern macht auch den Gesang durchaus unvernehmlich.“ (Der Critische Musicus, S. 22)

 

Obwohl fast hundert Jahre zwischen diesen beiden Kritiken liegen und obwohl es um unterschiedliche stilistische Beschreibungen geht, wird beiden Großen in verschiedenen Bildern und Worten das Gleiche vorgeworfen. Beide stehen den Erwartungen ihrer Zeit fern gegenüber. Bach war letztlich seit seinem Dienstbeginn in Leipzig 1724 ein Fremder in seiner Stadt. Und Mozart tat alles, um Ende der 1780er Jahre aus Wien fortzukommen – vergeblich. Im letzten Lebensjahr bewarb um die Stelle des Domkapellmeisters (!) am Wiener Stephansdom. Erstaunlich! Das musikalische Klientel, wegen dem er nach Wien gekommen war, vergab aus zeitpolitischen und/oder musikstilistischen Gründen kaum noch Aufträge an Mozart. Es erinnert sehr an Bachs Umorientierungsversuche, mit seinem Opus 1, den „Clavierpartiten“ bei einem vom Amt unabhängigen Kennerpublikum zu reüssieren. 

 

Beiden Komponisten wurde die gleiche Kritik zuteil: die Musik sei unverständlich, verworren und verwirrend, letztlich gegen die Prinzipien der Natur ersonnen und zum Klingen gebracht.

 

 

Dr. Matthias Lotzmann