07.04.2022 um 19:15 Uhr Lutherkirche Barmen

Orgelkonzert II mit Dr. Matthias Lotzmann

Johann Sebastian Bach im 19. Jahrhundert – das 19. Jahrhundert und Johann Sebastian Bach

„Wem gehört Johann Sebastian Bach?“

 

Gustav Adolf Merkel, Orgelsonate Nr. 9 c-moll op. 183, 1. Satz (1885)

Johann Sebastian Bach, Präludium und Fuge c-moll BWV 549

Johannes Brahms, Präludium und Fuge g-moll WoO 10 (1857)

Hermann Schellenberg, Fantasie op. 10 (1850)

Johann Sebastian Bach, Sei gegrüßet, Jesu gütig BWV 768

Josef Gabriel Rheinberger, Orgelsonate Nr. 14 C-Dur op. 165 (1890)

Johann Sebastian Bach im 19. Jahrhundert –

das 19. Jahrhundert und Johann Sebastian Bach

"Wem gehört Johann Sebastian Bach?"

Programmeinführung und Anregungen zum Weiterdenken

von Matthias Lotzmann

„Johann Sebastian Bach und die, welche ihn verehren“ – auch so hätte die Überschrift über diesem Konzert durchaus lauten können. Neben zwei berühmten Werken Bachs stehen vier Werke von Komponisten der deutschen Romantik im Mittelpunkt dieses Abends. Es soll genussvoll gezeigt werden, wie intensiv sich die Komponisten des 19. Jahrhunderts auf ganze unterschiedliche Weise mit dem Werk des nachmaligen Leipziger Thomaskantors auseinandergesetzt haben. Allen ging es in irgendeiner Weise um Teilnahme an diesem großen Geist, der gerade im 19. Jahrhundert einer mystischen Verklärung anheimfiel. 

 

Die folgenden Gedanken möchten zeigen, wie verschieden und unversöhnlich der Geist der hier erklingenden Werke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren. Die eigentliche Überschrift daher in Form der Frage lauten: „Wem gehört Johann Sebastian Bach?“

 

Für uns heute befremdlich, die wir stets auf die Anerkennung des „geistigen Eigentums“ pochen, war es in der barocken Zeit ein Akt der positiven Anerkennung von Lehrern, eine Verneigung vor den Vorbildern und Komponistenkollegen, wenn man deren Figuren und Themen, die von ihnen ersonnenen Strukturen und Textbezüge und deren Choralver-wendungen aufnahm, nachahmte und fortentwickelte. Es war eine Ehrerbietung, sich eines fremden Materials zu bemächtigen. Und es war keinesfalls eine kompositorische Schwäche oder Kennzeichen von Einfallslosigkeit. 

 

Bekanntlich stand es um die Anerkennung der Kunst gerade Johann Sebastian Bachs zu seinen Lebzeiten nicht zum Besten. Bachs Resilienz gegen den um sich greifenden modernen „vernünfftigen“ Geist des 18. Jahrhunderts, seine berüchtigte und vielfältig aktenkundige Widerständigkeit, die durch ihn häufig beklagte Ignoranz der Obrigkeit, all das war bekannt und trug womöglich auch dazu bei, dass er auf der Kandidatenliste in Leipzig weit hinten rangierte. Auch fachlich vereinsamte er vor allem in Leipzig mehr und mehr, wenngleich er sich der Anerkennung ob seiner technischen Virtuosität am Instrument und hinsichtlich seiner kompositorischen Fähigkeiten sicher sein konnte. 

 

Als Bach 1750 dann aus Sicht seiner Kritiker „endlich“ abgetreten war, wurde dies lediglich als Randnotiz zur Kenntnis genommen, womöglich war in den Leipziger Amtsstuben ein Aufatmen wahrzunehmen, die Nachfolge im Thomaskantorat war schon Monate zuvor geklärt. Was Bach über seinen Nachfolger Harrer dachte, ist nicht überliefert.

 

Dass die Musik Bachs dann Jahrzehnte später die Aufmerksamkeit vor allem der Wiener Musiköffentlichkeit weckte, hatte mit der Sammelleidenschaft eines Nichtmusikers, eines leidenschaftlichen Laien, damals anerkennend „Dilettant“ genannt, zu tun. Es war der öster-reichische Diplomat und Liebhaber Händelscher und Bachscher Autographe, Gottfried van Swieten (1733–1803), der insbesondere bei Joseph Haydn (1732-1809) und Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791) dafür geworben hat, sich mit diesem großen Vermächtnis zu befassen und es für die Gegenwart zu erschließen. Die regelmäßig stattfindenden sonntäglichen Matineen im Hause van Swieten waren angefüllt mit der Musik Bachs und Händels. Die Inspiration für das eigene Komponieren, die Mozart hiervon mitnahm, kann gar nicht überschätzt werden. Die Werke seiner letzten Lebensjahre, sein „Spätwerk“, in der nächsten Generation dann auch das gesamte Werk Beethovens, wären ohne die Auseinandersetzung mit dem Komponieren Johann Sebastian Bachs undenkbar gewesen. Bachs Spuren sind in ihren Parti-turen allgegenwärtig. Es ist dies die zum Bruch zwischen Barock und Klassik gegenläufige Kontinuität. Und sie ist tatsächlich wesentlich intensiver, als man das noch vor wenigen Jahrzehnten wahrgenommen hat.

 

Diese große Kontinuität, die ihren Ursprung in die Würdigung Bachs im Kreise von Fachleuten somit unmittelbar nach Bachs Tod im Jahre 1750 hatte, wirkte bis in das 19. Jahrhundert fort. Erste Drucke (genauer: Erstdrucke) von Bachschen Werken erschienen in ganz Europa. Einer breiteren Öffentlichkeit aber blieb das, was sich eigentlich mit dem Namen Bach inhalts-bezogen verbindet, noch weitgehend unbekannt. Der Raum, in dem die Musik Bachs nun wirkte, hatte sich verändert. 

 

Außer Zweifel steht, dass Bachs Schaffen zu seinen Lebzeiten nie einer breiten Öffentlichkeit präsent war. Kaum etwas wurde gedruckt, das meiste wurde stets für den praktischen Gebrauch eines konkreten Anlasses eingerichtet und handschriftlich kopiert, selbst Abschreibfehler nur in geringem Umfang korrigiert (sic!). Auch gibt es zu Lebzeiten kein Gesamtverzeichnis seiner Werke. Auch Bach selbst erst am Ende eine Sichtung wichtig geworden zu sein. 

 

Vieles blieb auch da unberücksichtigt. 

War es ein absoluter Qualitätsbegriff, der regierte, dem selbst manches geopfert wurde?

 

Bach galt in Fachkreisen als ein bewunderter, wenngleich auch als schwierig und rückwärtsgewandt bezeichneter Meister. Wer waren seine Adressaten? Liebhaber, Gelehrige, Kenner und seine Dienstherren, was außer in Köthen nicht immer gleichbedeutend war. Er erreichte nach 1723 die Hörergemeinden in den vier Leipziger Hauptkirchen. Darüber hinaus musizierte er abseits seines eigentlichen Auftrages mit dem studentischen Collegium musicum, einem Ensemble, das aus der Leipziger Studentenschaft hervorging. Er war ein kritischer, nicht unumstrittener, aber gefragter Lehrer.

 

Der Zuschnitt seiner Werke selbst war überwiegend von der Aufführungsökonomie seiner Auftraggeber und seiner Anstellungsverhältnisse bestimmt. Der maximale Aufführungsapparat stand ihm mit ca. 40 Sängern und einem erweiterten Instrumentalensemble in der Thomasschule zur Verfügung. Mit den Dimensionen der Klangapparates eines Georg Friedrich Händel in London hat diese Musik nichts zu tun.

 

Diese kirchlichen bzw. kirchenmusikalischen Strukturen existierten schon im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr. Das kirchliche Leben nach 1800 war vollkommen zum Erliegen gekommen. Erst nach dem Wiener Kongress 1815 und einer anstehenden Neuordnung des ganzen Kontinents benötigte man in Deutschland eine erstarkende nationale Freiheits-bewegung, Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit fordernd. Bedeutende Identifikationsfiguren, die für die (auch vermeidlich kulturelle) Nation-Werdung in Preußendeutschland in Dienst genommen werden konnten, mussten gefunden werden. Neben der historischen Gestalt Martin Luthers war dies vor allem der 18. Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach seit der lutherischen Reformation, dessen Werk als Synonym für die allgemeinen integrativen Bestrebungen in Deutschland zu gelten begann. 

Bach-Denkmal von Süden (Bildnachweis: Wikipedia)

Sicherlich ist zuvorderst der Name Felix Mendelssohn Bartholdys (1809–1847) zu nennen, wenn es um die sogenannte „Wiederentdeckung“ des Werkes von Johannes Sebastian Bach geht. Die denkwürdige und viel zitierte Aufführung der Matthäuspassion im Jahr 1829 in der Berliner Singakademie wurde oft als das Initialereignis für eine „Renaissance“ der Beschäftigung mit dem Werk des barocken Meisters gesehen. (Der vierzehnjährige Felix hatte das Autograph des Werkes zur Konfirmation erhalten!) Das Betonen des Aufführungs-datums überstrahlt aber zugleich auch viele andere bedeutsame Linien der Bachrezeption im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. 

 

Denn das Werk des Thomaskantors war bei den „Kennern und Liebhabern“ seiner Kunst im Hintergrund der Öffentlichkeit immer en vogue geblieben. Das von Felix Mendelssohn gestiftete und im Jahre 1843 eingeweihte Bach-Denkmal in Leipzig ist ein steingewordenes Zeugnis dafür, wie sehr die Musik Bachs schließlich für die nationale Sache und das kulturelle Selbstverständnis in Anspruch genommen wurde. 

 

In Anerkennung seines Schaffens für die Orgel und ohne seine Verdienste um das Werk Johann Sebastian Bachs zu schmälern (Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelwerke sind heute allgegenwärtig), sollen in diesem Konzert Werke aber bewusst anderer Komponisten der deutschen Romantik zu Gehör kommen, deren Schaffen erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, also nach dem frühen Tod Felix Mendelssohn Bartholdys einsetzt und so die eine Brücke zwischen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der spätromantischen Orgelmusik Max Regers (1873–1916) bildet. Es sind fast genau fünfzig Jahre, die unter diesen Aspekten bislang kaum bedacht werden. Und die Zeit nach Mendelssohns frühem Tode erfährt ästhetisch eine deutlich neue Ausrichtung. 

 

Dieses Unterfangen sollte ganz den großen allgemeinen ästhetischen Konfliktlagen der Zeit folgen. Und gerade das Jahr 1850 stellte in der Geschichte der Orgelmusik und insbesondere hinsichtlich der Bachrezeption eine tiefe Zäsur dar. Mendelssohns Bartholdys Präludien und Fugen op. 37 (1833/37) und die sechs Orgelsonaten op. 65 (1844/45) gehörten ästhetisch der Vergangenheit an und das innovative Schaffen Robert Schumanns („Sechs Fugen über den Namen BACH“ op. 60 aus dem Jahr 1845) war zu diesem Zeitpunkt schon längst vorüber.

Die erste Hälfte des 19. Jahrhundert war von der Idee bestimmt, mit der Befreiung Europas von Napoleon könne und müsse auch eine Befreiung von der „Geschichte“ einhergehen (Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Reden an die deutsche Nation (1808)). Die Gründung der Geschichtswissenschaften in Deutschland wurde durch diese Strömung hierdurch erst motiviert. Am Ende aller Geschichte galt, dieselbe nach ihrem Abschluss zu dokumentieren und zu archivieren. Welch ein Fehlschluss! Dieses angenommene Ende der Geschichte spielt, wie noch zu zeigen sein wird, auch in diesem Konzert eine bedeutende Triebfeder dar.

 

Es war die 100. Wiederkehr des Todesgedenkens an Johann Sebastian Bach im Jahre 1850, die manche bedeutende Komponisten inspiriert und bewegt hat, sich mit seinem Werk auseinanderzusetzen, ja, und so auch in einer bestimmten Weise an ihm teilzuhaben. Es ist dies sicherlich auch der Aspekt einer kunstreligiösen Gesinnung in jenen Tagen. Konkret durch dieses anstehende Datum angeregt, initiierten namhafte Persönlichkeiten des deutschen Musiklebens vor allem um Robert Schumann (1810–1856), Franz Liszt (1811–1886), Ignaz Moscheles (1794–1870), Louis Spohr (1784–1859) und dem damaligen Thomaskantor Moritz Hauptmann (1792–1868) die Konzeption einer ersten gedruckten Ausgabe aller bekannten Werke Johann Sebastian Bachs. Der damals schon führende deutsche Musikverlag, Breitkopf & Härtel in Leipzig, besorgte die Zusammenführung und den Druck. Die eigens hierfür gegründete Bach-Gesellschaft löste sich satzungsgemäß nach Abschluss des Projektes, also mit Vollendung der fünfzig Bände dieses Mammutwerkes auf, um im Jahr 1900 in eine dann neu gegründete „neue“ Bachgesellschaft überführt zu werden. 

 

Bis in die Zeit um 1850 hatte die originäre ästhetische Realität der Romantik in Deutschland wenig mit dem Thema Bach zu tun gehabt, abgesehen von Kennerkreisen. Die projektierte Ausgabe seiner Werke war da also vor allem ein wichtiges kulturpolitisches Phänomen. Diese Gesamtausgabe wiederum hat sich ästhetisch in vielen Werken und Auffassungen der Komponisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts niedergeschlagen, allen voran bei Robert Schumann (1810–1856) Johannes Brahms (1833–1897). 

 

Um diese Erscheinungen und Bezugnahmen heute Abend deutlich hörbar zu machen, erklingt als Eröffnung der Eingangssatz aus dem „Opus ultimum“ von Gustav Adolf Merkel (1827–1885), der Orgelsonate c-moll op. 183. 

Merkel war seit 1860 Organist an der Dresdner Kreuzkirche und seit 1864 an der katholischen Hofkirche mit ihrer berühmten Silbermann-Orgel, die er über alles schätzte. Für dieses Instrument, an der sich einst auch Johann Sebastian Bach hören ließ, schuf er einen großen Teil seiner Orgelsonaten, auch das heute erklingende Opus ultimum. Und es war genau der Hörerkreis des weitgehend säkularisierten bürgerlichen Salons der sächsischen Hauptstadt, der, sich selbst musikalisch betätigend, die Klavierliteratur der Klassik und Romantik bevorzugte. Es ist also nicht überraschend, dass die Klangbilder Beethovens, der Stil der Lieder ohne Worte von Mendelssohn Bartholdy oder der Klaviersololiteratur Schumanns auch in diesem Werk auftauchen. Das Werk Merkels repräsentierte die Orgelliteratur in Deutschland zu ihrer Zeit, bevor die Orgelsinfonik Max Regers (1873–1916) neue Dimen-sionen eröffnete und Maßstäbe setzte, hinter denen das Werk Gustav Adolf Merkels verblassen musste. Dieser kannte das Schaffen Bachs sehr genau und verstand es, die Geschichte des Instrumentes der Instrumente behutsam abzubilden, die Quellen auf-zuzeigen und seine eigene musikalische Gegenwart zu artikulieren. Faktur und der Tonvorrat des Eröffnungsteils erinnern tatsächlich auf frappierende Weise dem Beginn des Schlussstückes des Abends, Präludium und Fuge c-moll BWV 546. 

Gustav Adolf Merkel (Bildnachweis: Wikipedia)

Die Orgelsonate von Gustav Adolf Merkel, welcher im Todesjahr Ludwig van Beethovens geboren wurde, stellt signifikant schon im ersten Takt seines letzten Werkes, seinem Vermächtnis, die Verneigung vor Johann Sebastian Bach auf, nämlich vor BWV 546. Die massiven Eingangsakkorde über dem Orgelpunkt erinnern den Hörer sofort an den Beginn des Bachschen Werkes, das hier heute zum Abschluss auch erklingen wird. Der Bezug zu BWV 546 ist augenscheinlich. Auch bei Merkel kommt die Eröffnung mit wuchtigen, sich abtauschenden Akkordblöcken daher. 

 

Der fluide Gesamteindruck des Bachschen Klangbildes vor allem im Mittelteil des Präludiums wird aufgenommen. Raumgreifende Unisono-Passagen dominieren das Erscheinungsbild. Dramatische Zuspitzungen versetzen den vermeidlichen Geist des Bachschen c-moll-Werkes in ein romantisches Klanggewand und einen einen großen rhapsodischen Bogen. Heute fast vergessen, war das gesamte Orgelwerk Gustav Adolf Merkels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das meist gespielte eines Komponisten in Deutschland und wurde mit Preisen prämiert und lief sogar den Orgelsonaten Felix Mendelssohn Bartholdys ihren Rang ab. Otto Depenheuer schreibt im Vorwort zur Notenausgabe von 1991: „Es [das Orgelwerk Merkels] gehörte zu seiner Zeit zu den meist gespielten in Deutschland. Im Zentrum stehen die neun Orgelsonaten, die zu den bedeutendsten Beispielen dieser Gattung im 19. Jahrhundert zählen.

 

Natürlich ist dieser Eröffnungssatz keine Stilkopie, sondern entspricht vollkommen dem Geist seiner Entstehungszeit. Rhapsodische Passagen und virtuose Akkordbrechungen kennzeichnen eine Dramatik, die stets einem Gipfel entgegenzustreben scheint. Kantabili-tät und eine ungebrochene periodische Gliederung der dynamisch zurückgenommenen Zwischenabschnitte gliedern das an eine ansonsten einer Fantasie ähnelnde Stück. Nach den frei empfundenen Oberstimmenmelodien des Mittelteils mündet der Satz wieder in den schlagenden Abtausch der charakteristischen Akkordblöcke ein und rechtfertigt so die Bogenform des Sonatensatzes.

 

Dass die Auseinandersetzung mit der Kunst Bachs aber auch ganz anders aussehen kann, zeigt Johannes Brahms (1833–1897). Ausgestattet mit allen Fähigkeiten eines großen und unverwechselbaren Komponierens und der Berühmtheit, zu der ihm Robert Schumann durch seinen berühmten Beitrag „Neue Bahnen“ verholfen hatte, komponierte Johannes Brahms im Jahre 1857, also ein Jahr nach dem Tode seines Mentors Robert Schumanns in der Nervenheilanstalt Endenich, Präludium und Fuge g-moll für die Orgel. Brahms steht zu diesem Zeitpunkt noch im Dunstkreis der hohen Erwartungen, die sich mit seinem Namen verbunden hatten. Die wohlmeinenden, im Duktus prophetisch-religiöser Formulierungen aus dem Jahre 1853 gewählten Worte lasteten noch schwer auf ihm. Robert Schumann schreibt: „Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer gebildet in schwierigen Setzungen der Kunst, mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen. Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: Das ist ein Berufener.

Johannes Brahms um 1853 (Bildnachweis: Wikipedia)

Vier Jahre später, 1857, beginnt die Zeit einer ersten beruflichen Orientierung in der westfälischen Residenzstadt Detmold. Dieses Orgelwerk, das Brahms nicht in seinen Werkkatalog aufgenommen, welches aber auch nicht wie so oft selbstkritisch vernichtet wurde, lässt schon die Sphäre des dann bald folgenden 1. Klavierkonzertes und des Deutschen Requiems aufleuchten. Es ist zwar noch von einer ungestümen jugendlichen Hingerissenheit getragen, spricht aber stets im Ton voller Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit. Komplex und zuweilen von großer Dichte ist das Satzbild. Der Komponist bezieht sich deutlich auf barocke und gerade auch Bachsche Techniken. Es ist das romantische Stück mit dem Maximum an Tiefe des heutigen Abends. Dabei ist die Musik nie aufdringlich, weder ausdrucksbezogen noch dynamisch.

Brahms zeigt sich hier als von der Kunst des Bachschen Kontrapunktes durchdrungen. Er hegt keine Absichten, sie für ästhetische Zwecke zu instrumentalisieren. Auch hatte Brahms den Anspruch, aus dem geschichtlichen Fluss durch die objektive Allgemeingültigkeit der Kunst herauszutreten. Die Orientierungspunkte sind für Johannes Brahms in der barocken Zeit Heinrich Schütz, Georg Friedrich Händel und vor allem Johann Sebastian Bach. 

 

Zu Beginn erklingt eine echte, stürmische Toccata, die ihren Namen zurecht trägt: virtuos, mitreißend, überraschend, dem Höhepunkt entgegenstrebend. Auf wunderbare Weise finden Toccata und Fuge zusammen; das Tempo giusto der Fuge ist wie auch der Eingangssatz von ursprüngli-chem, unartifiziellem Musizieren geprägt, erfrischend und mitnehmend. Das Werk besticht durch einen nicht enden wollenden Spannungsbogen, obwohl die Abschnitte klar gegliedert sind. Ver-worren erscheinende rhythmische Konstellationen (das für Brahms charakteristische Duolen-gegen-Triolen-Prinzip) wie auch verborgen und „verschleiert“ wirkende Harmonik führen an die Grenzen des gängigen Tonsystems und Fassbaren. Die Musik erreicht eine Intensität. Jeder Ton und jede Zeit sind substanziell und relevant. Es eröffnet sich ein Mikrokosmos an Zuständen und Beziehungen. Die Nähe zum ästhetischen Ansatz Johann Sebastian Bachs ist offensichtlich, ohne dass das Werk epigonal oder empfind-sam wirkt. Die Frage, warum dieses vitale Stück und mit ihm alle anderen Kompositionen für die Orgel im offiziellen Werkverzeichnis nicht erscheinen bzw. als Opus posthumum rangieren, bleibt ein Rätsel. Nächstliegend ist wohl die Annahme, Brahms habe hier womöglich seinen eigenen hohen Qualitätsstandard nicht erfüllt gesehen. Diese Annahme lässt uns ratlos zurück, ist doch gerade das WoO 10 qualitätsbezogen in einem Atemzug mit den bekannten Werken jener Tage zu nennen (Orchesterserenaden op. 11). Oder wurde das Instrument Orgel als nicht vorzeigbar konnotiert? Meinte er, mit dem und an diesem Instrument selbst gescheitert zu sein? Es erscheint uns heute als völlig abwegig.

 

Denn Johannes Brahms erweist sich gerade in diesem Werk als ein Kenner und Könner des Bachschen Kontrapunktes. Er hat alles durchdrungen. Das Besondere ist, dass es sich nicht wie so oft bei Mendelssohn Bartholdy um eine Kopie im Stile Bachs handelt, sondern als ein Dokument mit den typischen Merkmalen originär Brahmschen Komponierens gelten kann. 

 

Der Komponist schafft hier etwas völlig Neues, das zwar von Bachscher Musik genährt ist, aber ganz die Möglichkeiten des romantisch bewegten Geistes zeigt: Ein virtuos gehandhabtes Klangbild, konsequente harmonische Entfaltung und Verdichtung, barocke Figuristik im romantischen Ausdrucksgewand, Verschränkung von Phrasen und Melodiebögen mit den Kadenzbildungen, imposante Steigerungsvorgänge, Durchdringung des Kanons etc. Es ist die Arbeit eines Meisters!

 

Die Zeit um 1850 ist eine Wendezeit. Nationalpolitische, kirchenrestaurative und säkulare sowie widerstreitende ästhetische Aspekte und die tatsächliche Einmaligkeit der Bachschen Kunst wirken in jenen Jahren in- und durcheinander. 

 

1850 ist nicht nur das Jahr des ersten großen und öffentlich begangenen Bach-Jubiläums. Es ist auch das Jahr, in welchem Richard Wagner (1813–1883) während seines Aufenthaltes in Zürich seinen unsäglichen Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“ verfasste. Kurz nachdem „Lohengrin“ seine Uraufführung am 28. August 1850 in Weimar erlebte, erschien der Text in zwei Etappen am 3. und 9. September unter einem Pseudonym in der von Robert Schumann gegründeten „Neuen Zeitschrift für Musik“ (NZfM). Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die sogenannte Neudeutsche Schule um Richard Wagner und Franz Liszt als antisemitisch zu konnotieren sind. Diese Gruppe, die sich die „Fortschrittlichen“ und Zukunftsmusiker“ nannte, fand in der seit 1844 von Franz Brendel (1811–1868) redigierten NZfM eine Bühne.

 

In den Wochen zuvor hatte man das Bachsche Jubiläum begangen. Und ebenfalls im Juli 1850 wurde in dieser NZfM auf ein Werk aufmerksam gemacht, das hier und heute erklingt. Es war die Fantasie d-moll op. 10 „zu J. S. Bachs hundertjährigem Gedächtnistage“ von Hermann Schellenberg (1816–1862), Organist an der Leipziger Johanniskirche. Einerseits galt Schellenberg als ein Bewahrer der musikalischen Tradition. Andererseits wollte er als Anhänger klanglich auch auf der Orgel in neue Welten vorstoßen. 

 

Der Komponist ist ganz dem zeitgemäßen „neudeutschen“ Geist verpflichtet, wenn er in seinem Vorwort vermerkt: „Wir sehen nach den Meisters Tode die Bebauung dieses Kunstgebietes bis in die ersten Decennien des 19. Jahrhunderts von Stufe zu Stufe herabsinken. Die ganze Kunstanschauung Derer, welche sich auf diesem Gebiete thätig erwiesen, trug daran Schuld. Ihre Vorstellung von der Aufgabe der Kunst war eine verkehrte. Die Verstandes-thätigkeit [sic!] galt ihnen als der einzige und allein selig machende Faktor musikalischen Schaffens […] So belebe und befruchte vor Allem das erhabene Vorbild dieses Meisters solche Erkenntnis mehr und mehr. […] Möge angesichts des hohen Tages das Vorliegende nicht verkannt, sondern als eine Gabe zum Antriebe weiterer Förderung der sich in unsern Tagen entwickelnde Orgeltonsetzkunst hingenommen werden, damit es geschehe, dass der neu emporwachsende Keim sich unter dem Schirme Bach’scher Kunst nach und nach zum starken Baume entfalte. Leipzig, am zweiten Pfingsttage 1850. Der Verfasser.

Johanniskirche im Osten Leipzigs vor ihrer Zerstörung (Bildnachweis: Wikipedia)

Und tatsächlich wird diese Fantasie figuristisch von Elementen bestimmt, wie auch Bach sie eingesetzt hat. Die Musik steht allerdings lediglich in einer assoziativen Verbindung zum Orgelstil Bachs. Darüber hinaus leuchten hier diverse Verwandtschaften auf, die über das Stadium des Schlaglichtes nicht hinausreichen: Tonfiguren, Sequenzbildung und Kadenzmuster. Schellenberg war an der klanglichen Arbeit gelegen. Hermann Schellenberg hat durch seine klanglichen Vorstellungen den romantischen Orgelbau maßgeblich animiert und sich für die Errichtung der später berühmten romantischen Ladegast-Orgel in der Nikolaikirche eingesetzt, deren Fertigstellung er aber nicht mehr erlebte.

 

Schellenberg strebte eine stark individualisierte Musiksprache an, in der das Rhapsodische, Fantastische und Erhabene wichtige Elemente waren. Darin und in der harmonischen Konstruktion nähert er sich an Richard Wagner an, weshalb sein Orgelstil als weltlich empfunden, um im Leipzig der damaligen Zeit zum Teil auf Ablehnung stieß. So beschreibt es die Herausgeberin des Werkes, Anne Marlene Gurgel 1996. Schellenbergs op. 10 atmet einen ganz anderen Geist als das Orgelwerk des Felix Mendelssohn Bartholdy nur wenige Jahre zuvor. Es ist nicht sakral, sondern für die Konzertveranstaltung bestimmt. Dem Hörer des Werkes wird gewiss auffallen, dass es nicht geistlich, sondern heroisch atmet. Es weht nach der Zeitenwende der gescheiterten Paulskirchenrevolution von 1848 ein anderer Geist: national und Stärke verströmend. Es ist eine für ihre Zeit repräsentative Musik. 

 

Hermann Schellenberg hat so als Beispiel für die Tendenzen seiner Zeit zu gelten, denn er funktionalisiert JSB für den „neuen“ Geist. Er benennt Bach quasi als Zeugen und „Anwalt“ für die „Zukunft der Freiheit“ (Freiheit = Natur). Er positioniert JSB gegen den Kulturschock, den die gescheiterte 1848er-Revolution ausgelöst hat (Paradigmenwechsel gegenüber dem JSB-Zugang Mendelssohns). Denn die Realpolitik wendet sich nach 1848/49 von den auch musikästhetischen Idealen der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts ab. Der Begriff „Naturschutzpark“ macht mit Blick auf die Zeit vor 1850 in Deutschland die Runde. Und wieder kommt es zu einer Bezugnahme auf die Begrifflichkeit der Natur (vgl. die Bach-Kritik Scheibes), jetzt aber in einem entwertenden Kontext.

 

Es herrscht zunächst ein musikfremder Geist nach 1850, da eine negative Konnotierung der Musik mit den nunmehr relativierten Idealen der Paulskirchenrevolution erfolgte! (Vgl. Carl Dahlhaus, Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Laaber 1989, Kapitel III 1848–1870, S. 159f.) Und wieder wurden eine „neue“ Zeit und einer „neuer“ Geist propagiert, die alles „Geschichtliche“ hinter sich lassen sollten. Das verbarg sich zunächst hinter dem Begriff „Fortschritt“. Zwar war Bach doch über alles erhaben und erhoben. Aber die Fantasie ist sicherlich als prominenter Teil eines Vereinnahmungsversuches des Bachschen „Geistes“ für diese Ziele der „Neudeutschen“ zu bezeichnen. Und so wurde sie in der NZfM auch beworben. (Der Gestalt Beethovens erging es im 19. Jahrhundert nicht anders!) Das ist gemeint, wenn Schellenberg in seinem Vorwort ausruft: „Der Fortschritt hat begonnen!“ Die Fantasie zum Bach-Jubiläum diente sicherlich nicht dem Nacheifern der kontrapunktischen Kunst Bachs. 

 

Das war nicht der Anspruch. Vielmehr sollte das etappenweise Zitieren Bachscher Spiel-figuren die künstlerische Legitimation eines angestrebten Neuanfangs in der musikalischen rechtfertigen. Das Werk Bachs wurde hierfür vereinnahmt. Bach selbst avancierte zum „Helden“ der Geschichte. 

 

Die Fantasie op. 10 wirkt in Abschnitten ja auch fast wie ein Opernouvertüre Wagners und verfehlt ihre dramatische Wirkung nicht. Kunstvoll zusammengefügt, quellen die romantischen Klangfarbenabschnitte aus den an Bach gemahnenden Figuren. Nach den Passagen des Ringens treten dann immer hymnische Abschnitte auf, aus denen heraus erneut wiederum dramatische Anläufe hervorkommen. Erst das pathetisch eintretende Finale setzt diesem immerwährenden Abtausch sein Ende. Orchestral inspirierte Klangfarben und Lichteffekte im Sinne der Wagnerschen Dramatik werden geschickt mit virtuosen Kaskaden kombiniert. Der „Fliegende Holländer“, der „Tannhäuser“ und der „Lohengrin“ haben deutlich ihre Spuren in der Fantasie op. 10 von Hermann Schellenberg hinterlassen.

 

Daneben greift Schellenberg auf den schon damals allgemein bekannten Figurenvorrat, wie Bach ihn in der Toccata und Fuge d-moll BWV 565 verwendet, zurück. Auch die Wahl der Tonart ist der Versuch einer ästhetischen Anknüpfung. Ebenso erinnert das Satzbild (der Abtausch und die Schichtung der Akkorde) frappierend an die vermeidlich Bachsche „Vorlage.

 

Man verstand sich dem Geiste Bachs, wie man ihn begriff, verpflichtet, als man die Orgel als romantisches Instrument entdeckte. Die Musik zusammen mit den in der Vorrede geäußerten Gedanken zum grundsätzlichen Stellenwert Bachs und seines Werkes sind eindrucksvoll, hörens- und bedenkenswert und eine Bereicherung jedes romantisch orientierten Orgelkonzertes. Sein Werk für die Orgel ist eine wichtige Etappe zu den Werken der Orgelkomponisten Julius Reubke (1834–1858) und Franz Liszt (1811–1886). 

 

Wie das Programm des heutigen Abends zeigt (vgl. Rheinberger, katholische Hofkirche Dresden), ist die Verehrung Johann Sebastian Bachs im 19. Jahrhundert längst keine Frage einer konfessionellen Orientierung mehr. Sie ist einer ästhetischen und politischen Ausrichtung gewichen. Der informierte Hörer von heute wird auch musikprraktisch und stilistisch keinen spezifischen evangelischen oder katholischen Kontext ausmachen wollen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Dass es im 19. Jahrhundert den Berufsstand kirchlich gebundenen Kantors und Organisten de facto nicht gibt, ist das eine. Überdies ist das künstlerisch anspruchsvolle weitgehend Orgelspiel eine Domäne der konzertanten Darbietung geworden. Die Gattung der Sonate und des Orgelkonzertes dominiert die Literatur. 

 

Schon der Name in seinen Tonbuchstaben, das berühmte B-A-C-H, wurde selbst zum Abzeichen der Gesinnung und erlangte einen fast religiösen Charakter und zeigte, wes Geistes Kind man war. Ist es da vermessen, von „Vergötterung“ und „Vergottung“ zu sprechen? 

 

Allgemeine kulturelle Tendenzen wie die der „Kunstreligion“ (die göttliche Sphäre sei lediglich mittels der Kunst und den Künsten zu erlangen) sind ein wichtiger Faktor auch bei der zeitgenössischen Bewertung des Werkes von Johann Sebastian Bach. 

 

Und schließlich ist das vierte Element in der Betrachtung Johann Sebastian Bachs aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts zu nennen: Neben Politik, Kirche, Kunstphilosophie ist es die romantische Gestimmtheit der Zeit bis zur deutschen Reichsgründung 1870/71, die eine verklärte Sicht auf die Erscheinungen der Kunst(-geschichte) favorisierte. Bach galt in dieser Hinsicht als ein vergessener und verwunschener, weil angeblich verkannter „Held“, dessen man sich nun, nicht ohne den Schauer des Unheimlichen zu empfinden, erinnerte. Dies ist sicherlich eine Tendenz, die sich auch bis weit in das 20. Jahrhundert gehalten hat und die in zahlreichen Abhandlungen eine nicht unbedeutende Rolle spielte, was die Sicht nicht wenig getrübt hatte. Der Begriff, der sich in der Thematik gezeigt hat, ist auch heute noch in aller Munde: der „Niedergang“, den die Entwicklung nach Bach genommen habe. 

Josef Gabriel Rheinberger (Bildnachweis: Wikipedia)

Auch die im Mittelteil des Programms erklingende Orgelsonate C-Dur op. 165 des in Liechtenstein geborenen und in München lebenden Komponisten Josef Gabriel Rheinberger (1839–1901) ist eine Bezugnahme zur Orgelmusikgeschichte der barocken Zeit. Das Werk entstand im Jahre 1890 und trägt als einzige seiner Orgel-sonaten Satzbezeichnungen wie „Präludium“ und „Toccata“. 

 

Bestimmt nicht für die Kirche, sondern den Konzertsaal, waren die zwanzig Orgelsonaten Rheinbergers stilprägend und nach den Werken Mendelssohn Bartholdys sicherlich die bedeutendsten des 19. Jahrhunderts und trugen entscheidend dazu bei, dass der Komponist als das Haupt der katholischen Kirchenmusik betrachtet wurde. Rheinberger geriet nach dem Ersten Weltkrieg in Vergessenheit. Er stand am Ende der klassisch-romantischen Epoche und verkörperte eine konservative Handhabung der Kompositionsmittel. Trotzdem genügte nicht ein einziges seiner 197 mit Opuszahl versehenen Werke den Bestrebungen des Cäcilianismus, einer innerkatholischen Bewegung zur Revitalisierung der katholischen Kirchenmusik. Dennoch war sein Ruhm groß und seine Schüler waren in der folgenden Generation das „Who is who“ (Max Bruch, Engelbert Humperdinck, Richard Strauss, Wilhelm Furtwängler etc.) der deutschen Spätromantik. Wer in diesem Orgelwerk op.165 eine den Überschriften folgende kompositorische Hommage an die Bachschen Werke gleicher Art erwartet, wird sicherlich enttäuscht. Auch Rheinberger knüpft lediglich assoziierend an Johann Sebastian Bach an. 

 

Wie ein roter Faden entspinnt sich die auf dem Mordent basierende rhythmische Figur in ihrem weit ausgreifenden Tonraum. Ist damit schon die Verneigung vor dem barocken Großmeister absolviert, da doch manche seiner bedeutenden Werke aus eben dem Element „Hauptnote – untere Nebennote – Hauptnote“ entspringen. Rheinbergers Idee ist es im ersten Satz, dieses Konstruktionselement gegen eine zutiefst romantische melodische Episode laufen zu lassen. Und aus dieser konfrontativen Lage erwächst eine mitreißende Spannung, der sich der Hörer nicht entziehen kann. Auch die so vorbereitete, in der Mitte des ersten Satzes platzierte Fuge bringt diese Spannung zwischen anapästischer Figuristik und schwelgender Melodik. Aber das kanonische Prinzip behält nicht die Oberhand, domestiziert vergeblich die den Oktavraum überschreitenden, überbordenden melodischen Bögen. Das lyrische Klangbild dominiert eben auch hier, wie es dann wie gehabt im abschließenden Rahmenteil wieder erscheint: Das angedeutete Konzertieren des Beginns geht im klanglichen Schwelgen unter und soll es auch. Es ist Kennzeichen des inneren Programms dieses Satzes. 

 

Der zweite Satz der Sonate hätte auch einen solitäres romantisches „Charakterstück“ sein können. Im Stil einer Pastorale erscheint die Musik Ganz auf eine klangliche Verdichtung hin konzipiert, ist die Überschrift „Idylle“ gattungsgemäß Programm. Der wiegende Sechsachtel-takt und die bewegungsbetonte Figur des thematischen Gedankens lenken den mediativen Blick ab von der repräsentativen Expressivität der Rahmensätze. Die Musik wirkt intim und reflektierend. Wie die Fuge im ersten Satz, drängt sich auch hier ein völlig gegensätzlicher Mittelteil hinein. Das ausgreifende, einen großen Tonraum durchschreitendes Signal reißt den inneren Blick jäh in eine andere Richtung. Jeder weitere Forte-Einsatz drängt den lieblichen Pianissimo-Klang weiter in den Hintergrund, bis sich endlich ein gewaltiger Fortissimo-Block in der Trugschluss-Harmonik Bahn bricht. Es ist die Frage, ob die Idylle letztlich fragil und doch lediglich eingebildet sei. Der romantische Konflikt zwischen „grausamer“ Außenwelt und „empfindsamer“ Innenwelt erfährt hier eine drastische Zuspitzung. 

 

Die Überschrift des dritten Satzes „Toccata“ verwendet Rheinberger in seiner gesamten Orgelmusik nur ein einziges Mal. Und man sollte annehmen dürfen, dass eine Musik erscheint, die zumindest eine Referenz an die Kunst des „alten“ Stils darstellt. Aber genauso wenig, wie der erste Satz tatsächlich kein „Präludium“ im Sinne des Wortes ist (Wofür die Silbe prä steht, geht aus der Anordnung der Sätze im Zyklus nicht hervor.) Es ist eine, im Duktus des Alla breve dominierenden Halben, überwältigende und mitreißende Musik im Stil einer Fantasie: große Linien, weite Bögen und eine ganz auf Klanglichkeit ausgerichtete Satzanlage. Allerdings sind weder von der Form noch vom artikulierenden Spiel her irgendwo toccatenhafte Züge zu entdecken. Gleichwohl entpuppt sich die Überwältigung selbst als ein tragfähiges Formkonzept. Diese ist selbst der Antrieb zum Fortgang des Satzes. Wie in einem Rausch strebt die Entwicklung ihrem Höhepunkt am Ende des Satzes und somit der gesamten Sonate entgegen. Und hierin ist diese Musik repräsentativ für den musikalischen Geist seiner Zeit, bedenkt man, dass im Jahr vor der Entstehung der Orgelsonate op. 165 Richard Strauss‘ Tondichtung „Tod und Verklärung“ zum ersten Mal in München erklang und Gustav Mahler an seiner 2. Sinfonie „Auferstehung“ arbeitete.

 

Die diversen Partiten über den Choral „Sei gegrüßet, Jesu gütig“ BWV 768 stellen sowohl musikgeschichtlich insgesamt, als auch im Werk von Johann Sebastian Bach den Höhepunkt der Gattung Choralvariation dar. Die elf Variationen nehmen Bezug auf das gleichlautende Lied, welches zuerst im Jahre 1663 im „Passionale Melicum“ des Martin Janus in Görlitz Veröffentlichung fand. Bach vertonte es auch im Schemellischen Gesangbuch BWV 449. Wenngleich die Passions- und Abendmahlsthematik in der Textdichtung bebildert werden, handelt es sich doch um ein primär bekenntnishaftes Lied, gedichtet in der „Ich“-Form. Es spricht in einer Gebets- bzw. Anbetungshaltung und verströmt eine meditative Frömmigkeit. Weder rituelle noch liturgische Funktionalisierungen stören die Andacht und dokumentieren den intensiven Blick des „ich“ auf den Gekreuzigten, von dem für das eigene Geschick alles erwartet wird. Radikalität und Ausschließlichkeit beeindrucken und erklären womöglich den Umstand, dass auch Bachs von dieser Dichtung fasziniert gewesen sein muss. Mehrere Stadien der Werkgenese sind augenscheinlich. Bach wird sich mit diesem Zyklus über einen längeren Zeitraum beschäftigt haben. Und die vorliegende einmalige Qualität des Werkes spricht für sich, krönt sie doch förmlich zusammen mit der gigantischen Passacaglia BWV 582 die frühe Schaffensperiode Bachs.

Die Abgeschlossenheit und Autonomie eines jeden Teils droht aus dem Gesamtzusammenhang herauszutreten und die Idee des Zyklus zu sprengen. Dieses Werk durchläuft mehrere Entwicklungsstadien, deren Wachstum in Form der Abschriften auch heute noch nachvollziehbar sind. Dementsprechend tut sich – wie auch in den „Canonischen Veränderungen über Vom Himmel hoch da komm ich her“ – die Frage auf, welche Reihenfolge die richtige sei. Ist der Dramaturgie der Textgrundlage zu folgen? Existiert überhaupt eine Verbindung zwischen der Textstrophe und einer bestimmten Variation? Sind fakturbezogene Kriterien ausschlaggebend?

 

Fest steht, dass der Eingangschoral und das Schlussplenum in figurierter Choralform die große Klammer bilden, innerhalb derer sich eine große Vielfalt an ausgeklügelten Varia-tionsverfahren präsentieren. Die Meisterschaft darin sucht in ihrer Zeit das ihre vergeblich. Auch die anderen Partitenzyklen bleiben dagegen qualitativ zurück. Bach findet hier völlig neuartige, ja zum Teil bizarre Muster und Modelle, etwa die delikate Figuristik in Nummer VI, das virtuose Ausspielen der Skalen in Nummer VIII oder die raumgreifende Nummer X. Hochexpressiv, die spieltechnischen Grenzen vernachlässigend, weist jede einzelne Variation über sich hinaus und trägt so zu dem Spannungsbogen bei, der auf das Abschluss-plenum hin ausgerichtet ist. In dieser Idee der Finalität liegt denn auch der eigentliche Bezug zur Textdichtung. Diese spricht von der Teilhabe des Menschen an dem durch den Gekreuzigten erwirkten Geschehen. Das berühmte seherische Wort in Jesaja 53,5 „…durch seine Wunden sind wir geheilt“ könnte hier programmatisch über dem Ganzen stehen: Die Partita als Christuszeugnis und Vergewisserung der Teilhabe an ihm. 

 

Dabei stellt dieser Zyklus die Vertonung einer jeden Strophe pro Variation dar. Bach spürt die zentrale Affektlage, setzt vielmehr das gesamttextliche „Programm“ um. Das erklärt die Divergenz zwischen der Siebenstrophigkeit der Dichtung und der Elfteiligkeit der musikalischen Anlage.

 

Bach geht es in seinem Werk um die affektive Darstellung einer Prozessualität, ja sogar einer „Prozession“ im Sinne einer Bewegung, Entwicklung bzw. Veränderung, an deren Ende die Erfüllung des Anspruchs, das Erreichen des Zieles steht. Und so verwundert es nicht, dass Bach im Schlussbereich der X den Gipfelpunkt mit einer doppelten Hauptstimmenführung in zwei Ebenen setzt. Die programmatische Botschaft lautet: Das Ringen um die präsentische Teilhabe an der Heilstat Gott hat ein Ende gefunden und ist in der „Unio mystica“ zwischen Seele und Christus erfüllt, real. Die Musik verströmt eine große Erhabenheit und Majestät. Das Ende des Kreuzweges (innerlich und äußerlich) ist erreicht. Nicht „Leiden, sondern Herrschen, Thronen Kreuz“ spricht die musikalische Rhetorik. In der Stimmpaarung des forte leuchtet die gemeinsame Existenz Christi mit der menschlichen Seele auf. Das schafft dramaturgisch die Voraussetzung zum Einstimmen in den alles egalisierenden und mitreißenden Schlusschoral. Dieser Schluss ist ein in der Meditation des Kreuzweges und des Leidens Jesu zu verortendes Bekenntnis von innen heraus, während der Beginn der Choralpartita noch die Qualität eines tröstenden Zuspruchs hatte, der von außen zu kommen schien. Der Weg zwischen Eingangs- und Schlusschoral versinnbildlicht das Ringen um „mein Heil“ und um „meines Herzens Trost und mein Teil“, was am Ende der Strophe und auch am Ende des ganzen Variationenzyklus mit „Lass mich deine Liebe erben und darinnen selig sterben!“ steht.

 

Es ist schließlich Bachs Präludium und Fuge in c BWV 546, welches das Konzert gegenüber der Orgelsonate von Gustav Adolf Merkel rahmt. Häufig wird das Werk als mit Fantasie und Fuge c-moll BWV 537 verwandt betrachtet. Dabei ist aber keineswegs eindeutig zu klären, ob die Version in c tatsächlich von Bachs Hand stammt oder ob es ursprünglich in d verfasst wurde, um den tiefsten Pedalton C zu vermeiden, der in jedem barocken Instrument vorhanden war und ist (vgl. „kurze Oktave“). Insofern wäre diese „Paarung“ obsolet. Dass die älteste überlieferte Quelle die Version in d nennt, lässt den Schluss zu, dass die uns geläufige Version in c einer späteren Zeit entspringt, auch wiederum aus instrumentenbaulichen Gründen: um in Takt 2-3 das (häufig nicht vorhandene) d‘ zu vermeiden. Diese offene Frage berührt natürlich unmittelbar den tonartlichen symbolischen Gehalt. Denn das D verkörpert die Christusherrschaft, das c wiederum steht für „Konflikt“, „Kampf“ und „Auseinander-setzung“. Letzteres wird Gustav Merkel assoziiert haben. 

 

Bachs BWV 546 stammt wie die zuvor erklungene Choralpartita „Sei gegrüßet, Jesu gütig“ BWV 768 wahrscheinlich aus seiner frühen Schaffensphase, vielleicht schon aus der Zeit in Lüneburg. Deutlich sind die Parallelen zu den freien Orgelwerken seines dortigen Lehrers Georg Böhm (1661–1733). Die außergewöhnliche Gestik des Anfangsmotivs mit seinen dramatisch erscheinenden Akkordballung, die virtuose Handhabung des Pedalspiels und der dezidierte Phrasenstruktur schon zu Beginn zeigen die Orientierung an Böhm wie auch an anderen barocken Meistern des sogenannten „norddeutschen“ Stils. Schroffe Vorhalts-bildungen und hart erscheinende Tonverbindungen zeugen von der Unerbittlichkeit der Ausdrucksgestalt dieses Beispiels für den gleichbedeutenden durezza-Typus. Die Figuristik ist vielgestaltig und erscheint nicht vereinheitlicht. Die Fuge besticht durch die Erhabenheit des Themas und seines fünffach geschichteten Einsatzes, wovon allerdings zwei „über-zählig“ sind. Anhänger der Bachschen Symbolsprache haben ihre Freude, tritt doch die Christuszahl „5“ ins Verhältnis zur trinitarischen „3“. Es ist erstaunlich, dass die Fuge im Wesentlichen durch die Abschnitte der themenfreien Partien bestimmt wird, das Fugen-hafte selbst also fast hintenansteht. So ist auch das Ende nicht von einer deutlichen abschließenden Kanonisierung geprägt, sondern von einer beeindruckenden Klangballung. Diese wiederum knüpft an das Prinzip des Beginns im Präludium an. Bach schafft so ein fakturbezogenes Pendant, um Präludium und Fuge miteinander zu verbinden, zu verschränken. 

Es zeigt an, dass sich das Prinzip der festgeschriebenen Paarung „Präludium und Fuge“ in jener zeit noch in ihrer Genese befindet und noch gar nicht selbstverständlich ist. Auch dies ist ein weiterer inhaltlicher Beleg für eine im Bachschen Gesamtschaffen frühe Entstehungszeit. Dies tut dem grandiosen Eindruck, den diese Musik auch heute noch erzeugt, keinen Abbruch. Wir blicken in die Werkstatt eines bekanntlich Großen der europäischen Musikgeschichte.