09.04.2022 um 19:15 Uhr Lutherkirche Barmen

Orgelkonzert III mit Prof. Dr. Joachim Dorfmüller KMD

Fragment und Vollendung im Sinne Johann Sebastian Bachs unvollendet und vollendet

sowie eine aktuelle Verbeugung vor seinem Namen

 

Johann Sebastian Bach (1685–1750)

Contrapunctus XVIII („B-A-C-H-Finale“) aus „Die Kunst der Fuge“ BWV 1080,

vollendet von Helmut Walcha (1907-1991) (239+71)

 

Zwei Choralbearbeitungen,

vollendet von Wolfgang Stockmeier (1931-2015)

Jesu, meine Freude BWV 753 (15+4)

O Traurigkeit, o Herzeleid BWV Anh. I 21 (2+14)

 

Fuge c-moll zu fünf Stimmen BWV 562 b,

vollendet von Thomas Meyer-Fiebig (*1949) (27+99)

 

Kjell Mørk Karlsen (*1947) Introduktion und Passacaglia über B-A-C-H op. 202 (2020)

Eine aktuelle Verbeugung vor dem Namen des Thomaskantors, gewidmet Joachim Dorfmüller und den Barmer Bach-Tagen, uraufgeführt am 16.1 Oktober 2020

 

Johann Sebastian Bach

Pedalexercitium g-Moll BWV 598 (33+7) und Fantasie C-Dur BWV 573 (13+94),

vollendet von Wolfgang Stockmeier

 

(Anmerkung: In Klammern die Anzahl der von Bach hinterlassenen Takte plus die Anzahl der Takte der jeweiligen Ergänzung beziehungsweise Vollendung.)

Im Sinne des Thomaskantors

Zu unvollendeten Kompositionen grundsätzlich und zu Vollendungen von Orgelwerken Johann Sebastian Bachs durch Helmut Walcha[1], Wolfgang Stockmeier[2] und Thomas Meyer-Fiebig[3] mit einem Exkurs zu Kjell Mørk Karlsens[4] Introduktion und Passacaglia über B.A.C.H. op. 202

 

[1] Helmut Walcha (*1907 in Leipzig, † 1991 in Frankfurt/Main), 19-jährig erblindeter Organist, Cembalist und Komponist. Er gilt als einer der bedeutendsten Bach-Interpreten. Er wirkte 1938-1972 als Professor für Orgel sowie als Leiter des Instituts für Kirchenmusik der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Frankfurt/Main. 1946-1981 hatte er das Organistenamt an der Frankfurter Dreikönigskirche inne. Er komponierte, edierte und spielte zweimal das gesamte Orgel- und Cembalowerk Bachs ein.

 

[2] Wolfgang Stockmeier (*1931 in Essen, † 2015 in Velbert-Langenberg) wirkte als Komponist, Organist und Musikwissenschaftler (Dr. phil. Köln 1958). 1961-1998 lehrte er als Professor für Orgel und Tonsatz/Komposition an der Musikhochschule Köln, leitete 1974-1997 das Institut für Kirchenmusik dieser Hochschule. 1964-2013 war er nebenberuflich als Organist in seinem Wohnort Langenberg tätig. Er gab weltweit über 3000 Konzerte, spielte mehr als 150 LPs/CDs ein und schrieb fast 400 zumeist verlegte Kompositionen jedweder Gattung und Besetzung bis zu Konzerten und abendfüllenden Oratorien.

 

[3] Thomas Meyer-Fiebig (*1949 in Bielefeld) war als Komponist an der Musikhochschule Detmold Schüler von Johannes Driessler und Giselher Klebe. Er wurde 1978 an das Kunitachi College of Music Tokyo als Dozent und 1980 als Professor für Komposition be-rufen. Er schreibt vornehmlich Orgel- und Kammermusik, hat Fragmente von Bach und Reger vollendet. Konzertierend bereist er mit seiner Frau Prof. Aya Yoshida jährlich seine Heimat.

 

[4] Kjell Mørk Karlsen (*1947 in Oslo) studierte Kirchenmusik in Oslo sowie Komposition bei  Egil Hovland (Oslo) und Joonas Kokkonen (Helsinki). Er lehrte u. a. an der Musikhochschule Oslos und war Domorganist in Stavanger und Tønsberg. Als Komponist der gemäßigten Moderne verpflichtet, schrieb er über 200 zumeist gedruckte Werke: u. a. 12 Sinfonien für Orchester und 7 für Orgel solo, 10 Messen, 6 Oratorien und 4 Passionen, 5 Streichquartette, je 2 Klavier- und Violinkonzerte, ferner Kantaten, Motetten, Lieder sowie Orgel-, Klavier- und Kammermusik fast jeder Besetzung.

Liebe Musikfreundinnen und liebe Musikfreunde,

 

ein nicht alltägliches Orgelkonzert hören Sie heute Abend: Ein Konzert ohne ein einziges vollendetes Werk von Johann Sebastian Bach! Also ausschließlich unvollendete Werke des 18. Thomaskantors aus der selbst für Fachleute kaum überschaubaren Fülle genialer Werke, die er geschaffen hat. Immerhin weit über 1000, die das neue Bach-Werke-Verzeichnis, abgekürzt BWV, auf 1060 Seiten notiert.

 

Aus dieser Fülle erklingen heute Abend sechs unvollendete, also Fragmente[1] gebliebene Werke, fünf von ihnen eindeutig für die Orgel bestimmt und eines für ein nicht näher bestimmtes Instrument oder auch mehrere Instrumente, jedoch auf der Orgel ohne Weiteres darstellbar. Diese sechs Werke wurden von fremder Hand vollendet, heißt also nichts anderes, als dass sie von anderen so zu Ende geschrieben wurden, wie sie  

v i e l l e i c h t  zu Ende geschrieben worden wären. Das eine oder andere dieser sechs Werke erklingt, zu Ende geschrieben, durchaus in Konzerten. Doch ausschließlich Bachsche Fragmente mit ihren Vollendungen – das ist wohl recht ungewöhnlich. Was mich betrifft, so habe ich die Bach-Vollendungen meines verehrten Orgellehrers Wolfgang Stockmeier[2] – vier davon hören wir heute Abend – sehr häufig im In- und Ausland gespielt, hatte in meinen Programmen gelegentlich auch Fragmente Ludwig van Beethovens[3] und Mendelssohn Bartholdys[4], die Christoph Albrecht und Norbert Linke zu Ende geschrieben haben – doch einen Abend aus-schließlich mit Vollendungen? Im Nachhinein wundere ich mich, bei einer Bilanz von über 4200 Konzerten in gut sieben Jahrzehnten zwar manche Abende Bach allein gewidmet zu haben, hingegen lediglich zweimal nur seinen Fragmenten und ihren absolut hörenswerten Vollendungen.[5] 

 

Dass es „ein spannendes Abenteuer ist, auf den Wegen eines anderen Komponisten zu gehen, mag man dessen Musik auch noch so gut kennen“[6], bekennt der heute Abend auch mit einer Bach-Vollendung zu Gehör kommende Komponist und Organist Thomas Meyer-Fiebig. „Wir wissen ja nicht“, so schreibt er weiter, „wie der Komponist selbst sein Werk beendet hätte. So hat man als jemand, der sich dieser Aufgabe stellt, meiner Meinung nach ohnehin nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn man in allen kompositorischen Elementen so dicht wie möglich an der Musik des anderen Komponisten bleibt. Ziel einer jeden Vollendung kann es also nur sein, sich ganz in den Dienst dieses anderen Komponisten zu stellen und ein als Fragment nicht sinnvoll wiederzugebendes Werk aufführbar und damit der musikliebenden Öffentlichkeit zugänglich zu machen“.

 

[1] In diesem Kontext unterschieden von „Fragment“ als Titel einer der neueren Musik zuzuordnenden, definitiv abgeschlossenen Komposition.  Exemplarisch sei aus dem jüngeren Orgelrepertoire hingewiesen auf Fragmente von Isang Yun (1975), Fragment mit Frescobaldi von Jürg Baur (1977), Reformationssonate in Fragmenten  (Melanchthon-, Schwenckfeld- und Lutherfragment) von Norbert Linke (1980-82), Duo mit Suitenfragmenten  für Altblock-flöte und Orgel oder Cembalo von Wolfgang Stockmeier (1982) sowie Olsokfragment von Kjell Mørk Karlsen (1987). In seiner Musik über Bach-Fragmente (2000; Manuskript) integriert  Norbert Linke die Fragmente BWV 562b, 573, 598 und Anh. I 21 quasi aleatorisch unter Berücksichtigung der B-A-C-H-Chiffre in „gemäßigt moderner Tonsprache“ (N. Linke).  Ähnlich verfährt Helmut Barbe im Dialog mit JSB (pro organo, Leutkirch 1992) mit dem Fragment BWV 573.

 

[2]  Wolfgang  Stockmeier  vollendete  darüber  hinaus  Orgelwerke von  Johann Gottfried Walter, Johann Ludwig Krebs und Wolfgang Amadeus Mozart.

 

[3]  Norbert  Linke  vollendete Skizzen aus Beethovens Studienheften aus dem Unterricht  bei Johann Georg Albrechtsberger  in:  N. L.,  Beethoven-Studien  (Präludium – Choral – Fuge; Manuskript) sowie Mendelssohn Bartholdys Fantasie und Fuge g-Moll o. op. (ebenfalls Manuskript).

 

[4]  Christoph Albrecht vollendete Mendelssohn Bartholdys vorgenannte Fantasie und Fuge g-Moll o. op. Vgl.: Mendelssohn Bartholdy, Neue Ausgabe sämtlicher Orgelwerke Band I, Kassel (Bärenreiter) 2014.

 

[5] Im Rahmen der Akademischen Orgelstunden der Universität Münster die Vollendungen Wolfgang Stockmeiers zwei Tage nach Bachs 154. Todestag am 30.7.1997 sowie am 28.7. 2004 zu seinem 197. Todestag nach: Johann Sebastian Bach. Unvollendete Orgelwerke. Ergänzt von Wolfgang Stockmeier. Köln (Kistner & Siegel) 1969. Leider lag mir damals Stockmeiers Ergänzung der Choralbearbeitung „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ BWV 764 noch nicht vor.

 

[6] Dem Verfasser in deutscher Übersetzung von Thomas Meyer-Fiebig vorliegend nach: Aya Yoshida, Anmerkungen zu verschiedenen Ergänzungen der c-Moll-Fuge BWV 562. In:  Nagoya Women’s University Departmental Bulletin Paper 62 (2016),  p. 315.

Hören werden wir heute Abend also sechs Werke, die Johann Sebastian Bach – aus welchen Gründen auch immer – nicht vollendet hat. Beginnen werde ich mit dem weit über die Orgelszene hinaus bekannten letzten Teil der „Kunst der Fuge“ BWV 1080, jenem instrumental nicht festgelegten, 2556 Takte in d-Moll umfassenden Monumentalzyklus, dessen 14 Fugen und vier Kanons Bachs absolute kontrapunktische Meisterschaft  eindrucksvoll unter Beweis stellen. „Contrapunctus ultimus“ wird dieses 239 Takte umfassende Fragment genannt, dem Bachs zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel kommentierend „Ueber dieser Fuge, wo Der Nahme /  B A C H  im  Contrasubject[1]  /  angebracht worden, ist  /  Der Verfaßer  gestorben

 

[1] Vgl. Tenorstimme T. 9-11. Carl Philipp Emanuel Bachs Kommentar ist der im Übrigen einzige zu einer unvollendet gebliebenen Orgelkomposition seines Vaters.

Notenbeispiel 1: Autograph der letzten 13 Takte des Contrapunctus ultimus der „Kunst der Fuge“ von  J. S. Bach mit dem Vermerk seines Sohnes Carl Philipp Emanuel.[1]

[1]  Sämtliche Autographe sind aus dem Internet unter Bach digital heruntergeladen.

Hören werden wir heute Abend also sechs Werke, die Johann Sebastian Bach – aus welchen Gründen auch immer – nicht vollendet hat. Beginnen werde ich mit dem weit über die Orgelszene hinaus bekannten letzten Teil der „Kunst der Fuge“ BWV 1080, jenem instrumental nicht festgelegten, 2556 Takte in d-Moll umfassenden Monumentalzyklus, dessen 14 Fugen und vier Kanons Bachs absolute kontrapunk-tische Meisterschaft  eindrucksvoll unter Beweis stellen. „Contrapunctus ultimus“ wird dieses 239 Takte umfassende Fragment genannt, dem Bachs zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel kommentierend „Ueber dieser Fuge, wo Der Nahme /  B A C H  im  Contrasubject[1]  /  angebracht worden, ist  /  Der Verfaßer  gestorben“ hinzugefügt hat. Dieses Fragment im Hinblick auf die ebenso unbedingte wie unbestrittene historische Bedeutung des Gesamtzyklus zu vollenden, galten seit Beginn des 20. Jahrhunderts Interesse und Bemühen vieler Komponisten und Musiktheoretiker, bezeichnender Weise übrigens nicht eines der vier komponie-renden Bach-Söhne. Aus der Vielzahl der Vollendungen [3] habe ich die von Helmut Walcha ausgewählt. Sie setzt ein in T. 238 und damit in T. 46 der mit dem B-A-C-H-Motiv eingeleiteten 3. Durchführung, die die Fuge allgemeiner Überzeugung entsprechend zu einer Quadrupelfuge macht, also zu einer Fuge mit vier Themen [4]. Eine gewaltige Herausforderung, der sich Walcha stellt, wenn er diese vier Themen in permanenter, auch chromatischer Verdichtung miteinander kontrapunktiert, bis sie ab Takt 299 quasi ad minimam unmittelbar aufeinander folgen und den monumentalen Zyklus in konsequent beibehaltener Vierstimmigkeit und ohne den vielleicht erwarteten, in gewisser Weise durchaus legitimen dominantischen Orgelpunkt – man darf‘s ausnahmsweise „romantisch“ formulieren – in strahlendem D-Dur beschließen.

 

[1] Vgl. Tenorstimme T. 9-11. Carl Philipp Emanuel Bachs Kommentar ist der im Übrigen einzige zu einer unvollendet gebliebenen Orgelkomposition seines Vaters.

 

[2]  Sämtliche Autographe sind aus dem Internet unter Bach digital heruntergeladen.

 

[3] Vgl. Walter Kolneder, Die Kunst der Fuge. Mythen des 20. Jahrhunderts. Teil III, S. 303-327. Zu den 20 (!) hier genannten Vollendungen sind aktualisierend hinzuzufügen wenigstens die von Erich Bergel (1991), Zoltán Göncz (1992), Yngve Jan Trede und Thomas Meyer-Fiebig (1997), Harald Heilmann (1999), Thomas Daniel (2010), Kalevi Aho (2011) und  Kimiko Douglass-Ishizaka (2015). 

 

[4] Walcha folgt damit u. a. den mit Wuppertal verbundenen renommierten Bach-Forschern Prof. Dr. Christoph Wolff (Schülerjahre in W.-Barmen) und Prof. Dr. Werner Breig (1979-1988 an der Bergischen Universität). Vgl. Otfried Büsing, Hatte Nottebohm recht?  Überlegungen zur Fuga a tre soggetti. In: Bach-Jahrbuch 102, S. 45 ff. Leipzig 2016.

Notenbeispiel 2: Autograph der Schlusstakte 6-9 (bei Wiederholungszählung T. 12-15) des Choralvorspielfragments BWV 753 „Jesu, meine Freude“ von Johann Sebastian Bach in der Kopie eines Unbekannten.

 Es folgen zwei Choralbearbeitungen, die Wolfgang Stockmeier vollendet hat. Bei „Jesu, meine Freude“ BWV 753  waren  auf  der Basis der Crügerschen Melodie in deren Mittelteil lediglich zwei Takte zu „erfinden“, da die beiden Schlusstakte noten-getreu vom Anfang des Fragments übernommen werden konnten. Dieser recht unkomplizierten „Operation“ steht die zweifelsohne immens schwierigere  Aufgabe  entgegen, die das kaum mehr als einen Takt umfassende Fragment „O Traurigkeit, o Herzeleid“ BWV Anhang I, 21 stellt. Stockmeier löst diese Aufgabe, indem er das Minimum dreiklangsorientierten Begleitmaterials zu den fünf Anfangstönen der Melo-die von Friedrich Spee „vor dem original Bachschen harmonischen Hintergrund unter Beachtung der der Bachschen Polyphonie immanenten Gesetze entfaltet“[1], auch wenn darin,  wie  er  weiter schreibt, „ein gewisser Schematismus“ liegt. Doch wolle er sich „nicht gestatten, hier, wo es nicht unbedingt nötig ist, zu viel Fremdes an das im Fragment Vorhandene heranzutragen“.

[1]  Vgl. zur Publikation Anmerkung 6.

Notenbeispiel 3: Autograph des Anfangs der im „alten“ Sopran- und im Bassschlüssel niedergeschriebenen Choralbearbeitung „O Traurigkeit, o Herzeleid“. Das ist alles…

Das nächste Beispiel ist die zur vollendeten Fantasie c-Moll BWV 537 a gehörende Fuge c-Moll BWV 562 a, deren Autograph am Ende der 1. Seite auf Zählzeit 4 des T. 27 abbricht.

Notenbeispiel 4: Autograph der T. 22 ff. Engführung der Fuge c-Moll BWV 537 b, notiert von Johann Sebastian Bach im barocken Sopran- und im Bassschlüssel

Thomas Meyer-Fiebig  schließt  aus  der Engführung des Themas der in den T. 22–24, dass Bach „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“[1] eine Doppelfuge geplant haben könnte. Den Weg, den Meyer-Fiebig nun auf der Grundlage dieser Prämisse verfolgt, kommentiert er mit folgenden Worten: „Um möglichst nahe an Bach zu bleiben, entschied ich mich, die c-moll-Fuge BWV 546 b als Modell heranzuziehen, weil dieser ursprünglich die Fantasie in c-moll vorausging. So folgen der 2. und der 3. Fugenteil der Ergänzung harmonisch dem Modulationsplan der c-moll-Fuge BWV 546, wie wir ihn in T. 59 ff., 100 ff. und 117 ff. finden. Auch das Zwischenspiel  T. 102–109 vor der Schlusspassage ist als Variation des ähnlich plazierten Zwischenspiels der Fuge BWV 546 zu sehen.“[2]  So strebt Meyer-Fiebigs Vollendung unaufhaltsam dem rhythmisch intensivierten, bewusst an die Takte 19 f. und 139 f. des c-Moll-Präludiums  BWV  546 a erinnernden Neapolitanischen Sextakkord der T. 116 f. entgegen, zitiert nach der Generalpause das Thema im Sopran ein letztes Mal und erreicht über tonikalem Orgelpunkt in freiem Rückgriff auf die T. 43 f. das Finale.

 

[1]  Briefliche Mitteilung an den Verfasser

[2]  Vgl. Anmerkung  7

Exkurs

Notenbeispiel 5: K. M. Karlsen, Introduktion und Passacaglia über B.A.C.H. op. 202 (Norsk Musikforlag A/S Oslo 2021), T. 1. 

Bevor das Konzert mit dem Pedalexercitium in g-Moll und der Fantasie C-Dur mit den jeweiligen Ergänzungen beschlossen wird, erklingt das den Barmer Bach-Tagen und dem Verfasser dieses  Beitrags  gewidmete Doppelopus  „Introduktion und Passacaglia über B.A.C.H.“ op. 202 meines norwegischen Freundes Kjell Mørk Karlsen[2] noch einmal wie schon während der 1. und der 2. Barmer Bach-Tage[3].

 

Die wohl erste große B-A-C-H-Reverenz in der norwegischen Orgelmusik zumindest in der Geschichte des 21. Jahrhunderts beginnt mit starken Kontrasten: zum einen toccatenhaft  vivo e quasi cadenza versus pesante im  Manual,  zum  anderen accelerando versus molto ritardando im Solopedal, im Tutti zusammengehalten von quasi kadenzierenden B-A-C-H-Soli im Pedal. Dynamisch ins Mezzopiano zurückgenommen, schließen sich in den T. 12-17 Zitate aus Karlsens pianistischer Bach-Reverenz op. 133 Nr. 21 an[4], überraschend geprägt vom verminderten Septimakkord in eigener Klangebene zwischen der B-A-C-H-Chiffre im Diskant und im Bass.                

[1]   Introduktion und das Lento-Finale der Passacaglia sind inzwischen im gleichen Verlag separat in K. M. Karlsens Praeambula nova – 24 organ pieces“ op. 203 als Nr. 6 und Nr. 18 erschienen.

 

[2] Der langjährigen Freundschaft verdanke ich die 3. Orgelsinfonie („Sinfonia antiqua“) op. 116 (1996), uraufgeführt in Anwesenheit des Komponisten am 16.4.1997 an der Karl-Schuke-Orgel (IV/55; 1989) der St. Lamberti-Kirche zu Münster und dort auf Initiative des Münsteraner Germanisten Prof. Dr. Dr. h. c. Herbert Kraft anlässlich runder Geburtstage auch eingespielt: 2003 komplett dreisätzig für die CD „Klangräume 2“ und 2008 die Sätze Cantilena und Toccata für die CD „Klangräume 3“.

 

[3]  Als Uraufführung wegen des vom 22.3. bis zum 4.5.2020 dauernden 1. Covid-Lockdown verschoben auf den 16.10.2020, sodann als 1. Wiederaufführung am 10.10.2021.

 

[4] In: Kjell Mørk Karlsen, „Fra folketone til tolvtone / Vom Volkston zum Zwölfton – 24 minipreludier for piano solo“ op. 133. Oslo (Norsk Musikforlag A/S) 2009, S. 33-35. Von dieser Komposition tief beeindruckt, bat ich bei meiner Norwegen-Tournee im November 2019 zugestandenermaßen recht kurzfristig für die 1. Barmer Bach-Tage 2020 um eine größere Orgelkomposition über dieselbe Tonfolge. Karlsen widmete sich, obwohl mit der Vollendung seines 2. Konzertes für Klavier und Orchester beschäftigt, spontan diesem Wunsch und sandte mir bereits Ende Januar 2020 das Manuskript seines op. 202 zu!

Notenbeispiel 6: K. M. Karlsen, s. o., T. 18-25, Thema der Passacaglia

Wie die Introduktion, so ist nicht minder die attacca über den Kammerton a‘ anschließende, in 17 Variationen gegliederte  Passacaglia von Kontrasten geprägt. Das achttaktige Thema  B-A-C-H-D-Cis-E-Es-G-A-Fis-F-D-Es-C-H basiert auf der Zwölftönigkeit, die durch die Viertonfolge D-Es-C-H[1]  erweitert wird. Der pluralistischen Idee, die mit dem verminderten Septimakkord in der Introduktion  bereits artikuliert wurde, entsprechen die Ganztonpassagen: manualiter in der 10., 13. und 14. Variation, pedaliter in der 12. Variation, schließlich kontrastiert mit der 32-tel-Chromatik in der 11. Variation, in der die Passacaglia einen ersten rhythmischen Höhepunkt erreicht. Einen zweiten und damit ihren eigentlichen Höhepunkt erreicht sie nach der Intensivierung in Richtung Virtuosität durch die Triolen in der 12., die Sextolen in der 13. und die 32tel-Skalen in der 14. Variation schließlich in der 15. Variation mit der Fast-Verdopplung auf Septolen pro Achtelnote als Vorbereitung auf die doppelte Klimax in den beiden finalen Tutti-Variationen: in der 16. mit achtstimmigen Clustern, die sich, vom durchgängigen Doppelpedal gestützt, pomposo aus den in punktierten Rhythmen absteigenden Quarten- und überwiegend Tritonussequenzen im Manual ergeben, sodann in der 17. und letzten Variation, in der die Reihe molto largamente im organo pleno zur Basis einer Kette von Dur- und Molldreiklänge aufgeht.

 

[1] Nur rein zufällig („på en naturlig måte“) ergeben sich, wie Karlsen auf meine Frage mitteilte, aus den Tönen 13–16  die Initialen von Dmitri SCHostakowitsch, der sich im Norwegischen übrigens Sjostakovitsj schreibt.

Notenbeispiel 7: K. M. Karlsen, s. o., T. 146 f.  Die Töne b‘‘, a‘‘, c‘‘ und h‘‘ als Spitzentöne der Dreiklänge b-Moll, D-Dur, As-Dur und E-Dur

Die Akkordkette strebt in T. 153  auf  den  E-Dur-Akkord  für den Reihenschlusston  h‘‘ zu,  in höchstem Maße spannungsintensiv  positioniert auf den Basston F und im molto ritardando länger gehalten als jeder Akkord dieser Komposition zuvor[1] – je nach Größe von Raum und Orgel ein eminentes Erlebnis!

(EXKURSENDE)

 

[1]    Bei der Uraufführung 15‘‘, gefolgt von einer 8‘‘-Generalpause.

Der Generalpause folgt ab T. 155 ein dynamisch bis ins pianissimo zurückgenommenes Lento cantabile, gegliedert in vier über jeweils zwei Takte ausgedehnte, per Flöte-4‘-Register oktavierte Rezitative, die jeweils mit melodisch wie rhythmisch differenzierten Permutationen der B-A-C-H-Chiffre beginnen und schließen. Die Hommage à Bach löst sich nun quasi morendo  ins Nichts auf: im staccato in der dreigestrichenen  Oktave zwischen endlos scheinenden Fermaten. Größer kann der Abstand nicht sein zu den meisten romantischen B-A-C-H-Reverenzen, die für die „Königin der Instrumente“ geschrieben wurden[1]!

 

Dem Exkurs in die Moderne folgen zwei weitere Fragment-Vollendungen: das Pedalexercitium g-Moll  BWV 598  und die  Fantasia C-Dur BWV 573, diesmal mit-einander verbunden durch den von mir eingeschobenen G-Dur-Dominantseptakkord. Die Voraussetzungen, beide Fragmente sinnvoll zu ergänzen, stehen in ähnlicher Relation zueinander wie die der zuvor gespielten Choralbearbeitungen: das erstgenannte fast, das andere kaum vollendet. Fast vollendet scheint das Pedalexercitium – wir würden wohl eher von einer Etüde sprechen – zu sein, mag als Herausforderung für die Bein- und Fußtechnik der – wenn überhaupt – Ergänzung eines von Vater Bach nicht mehr diktierten, weil mehr als logisch anschließenden Dominantseptakkordes bedürfen, der in die Tonika g-Moll oder deren gleichnamiges Dur zurückführt.[2] Oder zugespitzt: Hätten nicht einzig und allein die Töne Fis und G  oder gar nur die Tonikabasis G genügt? Andererseits: Ein Sakrileg ist es gewiss nicht, wesentlich über das Fragment hinauszugehen! Und zwar legitimiert von Bach persönlich, von dem sein zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel,  der das Pedalexercitium niedergeschrieben hat, festhält: „Mit seinen zweenen Füssen konnte auf dem Pedale solche Sätze ausführen,  die manchem nicht  ungeschikten Clavieristen mit fünf Fingern zu machen sauer genug werden würden.“[3]

 

[1] Dieser Kunstgriff unterscheidet Karlsens op. 202 fundamental von den wohl meisten größeren B-A-C-H-Kompositionen, die hymnisch im organo pleno respektive Tutti schließen. Insbesondere hingewiesen sei auf: Robert Schumann, Letzte der Sechs Fugen über BACH op. 60 (1848), Jan Albert van Eijken, Toccata und Fuge über BACH op. 38 (1850?), Franz Liszt, Präludium und Fuge über das Thema B-A-C-H. S(earle) 260 (1855/1872), Max Reger, Phantasie und Fuge über BACH op. 46 (1900) und Sigfrid Karg-Elert, Introduktion, Passacaglia und Fuge über B-A-C-H  (Originalfassung von 1932 verschollen; Neufassung von Wolfgang Stockmeier 2000). Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf weitere norwegische B-A-C-H-Vertonungen für Orgel: Ludvig Mathias Lindeman (1812-1887) schrieb Tre fuger over B-A-C-H  o. op. (1850?), Ludvig Nielsen (1906-2001) Preludium og Fuge over Bach op. 63 (1958) und Bjarne Sløgedal (1927-2014) Fantasy on the name of Bach o. op.

 

[2] Ein wenig „sportive“ Statistik sei gestattet: Der Umfang des Pedalexercitiums überschreitet mit 461 Tönen ohnehin beträchtlich beide Pedalsoli der F-Dur-Toccata BWV 740 mit 158 und 192 Tönen und das Pedalsolo der C-Dur-Toccata BWV 546 mit 299 Tönen.

 

[3]  Vgl.  C. Ph. E. Bach / Johann Friedrich Agricola: Bach-Nekrolog. In: Lorenz Christoph Mizler, Musikalische Bibliothek IV, Teil I, S. 172. Leipzig 1754.

Notenbeispiel 8: In der Handschrift Carl Philipp Emanuel Bachs die nach Diktat seines Vaters rasch aufgezeichneten Schlusstakte 27-33 des Pedalexercitiums g-Moll BWV 598.

So fügt Stockmeier zwei Oktaven über dem Finalton des Fragments die Quinttrans-position der Takte 27-29 an und entwickelt eine auf Elementen des Fragments basierende Ergänzung, die, Ansprüchen solider Pedalvirtuosität entsprechend, u. a. in T. 38 per Quartensequenz von d abwärts bis Cis sowie im Folgetakt per Drei-klangsakkordik vom D‘ aufwärts bis d  zielstrebig ins Finale führt. Auf diese Weise nimmt er, wie er es im Vorwort formuliert, „die innere Dramatik des hinreißenden Stücks“[1] auf und bringt „unter Benutzung des gegebenen Materials die gestauten Spannungen erst allmählich zum Ausgleich“.

 

[1]  Vgl.  Anmerkung 5.

Notenbeispiel 9: Fantasia C-Dur BWV 573, Fragment, T. 8 Zählzeit 3 bis T.13 Zählzeit 1. Wer danach spielen möchte, muss auf den Französischen Violinschlüssel, die Chiavette, achtgeben!

Wie schon die Ergänzung des Fragments der c-Moll-Fuge BWV 537 problematisch ist, weil sie auf Vermutungen basieren muss, so nicht minder die des Fragments der Fantasia C-Dur BWV 573, mit der das Konzert beschlossen wird. Ausgehend von der Gewissheit, dass die 13 Takte den Anfang eines Concerto abbilden, entschied sich Stockmeier, zunächst in Analogie zu den Präludien h-Moll 544, c-Moll  BWV 546 und Es-Dur BWV 552, auf die er ausdrücklich in seinem Vorwort hinweist, und nicht auf ein Präludium wie das in a-Moll BWV 543 oder die Fantasie g-Moll BWV 542. Daraus ergibt sich eine Konsequenz, die Stockmeier so beschreibt: „Bei der Ergänzung mußte also das Streben darauf gerichtet sein, das in e-Moll abbrechende Fragment mit gleicher Motivik nach C-Dur zurückzuführen, einen gegensätzlichen Concertino-Teil zu bilden und unter Wahrung der in den genannten Concerto-Präludien üblichen Proportionen und des ebendort erkennbaren Modulationsverlaufs  beide  Teile  gegeneinander  auszuspielen.  Das  Concertino-Thema ist nicht ohne Beziehung zu gewissen synkopenfreudigen Concertino-Themen Bachs erfunden.“[1]

 

Das Resultat dieser Überlegung sind die vier homophonen Concerto-Teile T. 1-18, T. 35-42, T. 56-80 und T. 89-107, die dem Kadenzschema C-Dur, G-Dur, F-Dur und wieder C-Dur folgen und durch drei jeweils modulierende Concertino-Fugati miteinander verbunden werden. Ein Kunstgriff besonderer Gewichtung stellt der 3. Concerto-Teil insofern dar, als dieser T. 63 ff. als Fugato angelegt ist: zunächst Einsatz im Bass, folgend T. 64 im Tenor, T. 67 im Alt und T. 68 im Sopran, fundiert durch ein schreitendes Viertel- und Achtelkontinuum im Pedal zur konsequenten Fünfstimmigkeit. Damit und insbesondere mit der grundsätzlichen Entscheidung für einen siebenteiligen Concerto-Satz ist „das größte Ergänzungsproblem“, wie Stockmeier im Vorwort ausführt, absolut glänzend gelöst! So darf denn auch einmal mehr gesagt werden: Danke, Wolfgang Stockmeier, für die Bach-Vollendungen!

 

Ihnen aber, meine Damen und Herren, liebe Musikfreundinnen und Musikfreunde, herzlichen Dank für’s Zuhören! Bleiben Sie den Barmer Bach-Tagen weiterhin gewogen! Und bleiben Sie gesund!

 

Seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem

Joachim Dorfmüller

 

[1]  Vgl. Anmerkung  5.