"Mach einmal mein Ende gut" –

Bachs musikalische Sterbekunst

und der Osterfestkreis im christlichen Kirchenjahr

Karfreitag 2022 – Musik zur Sterbestunde Jesu

Das „neue Leben“ als Kompositionsprinzip

in den Sterbekantaten Johann Sebastian Bachs

von Matthias Lotzmann

Dass der Philosoph, Theologe, Arzt und Musiker Albert Schweitzer Anfang des 20. Jahrhunderts für den Kapellmeister und Komponisten Johann Sebastian Bach die Titulierung „fünfter Evangelist“[1] geprägt hat, wurde damals als ein deutlicher Bruch der deutschnationalen kulturellen Okkupation der „Marke Bach“ verstanden. Sein Buch war revolutionär und gilt hinsichtlich der Detailinformationen und Deutungen bis heute als Vorbild für alle Bach-Biographien. Schweitzer erkannte im Werk Bachs eine theologische Stringenz und machte den Komponisten zum „Besitz“ der ganzen Welt. Bach wird überall musiziert und verstanden. Das ist nach den Jahrzehnten der Entkernung von romantischen Auswüchsen auch heute noch wahr. Auch die historische Aufführungspraxis hat davon nichts fortgenommen, eher im Gegenteil: Bach gilt heute mehr denn ja als Theologe, Prediger und Verfechter eines eindeutigen Frömmigkeitstils. Davon will die heutige „Musik zur Sterbestunde Jesu“ künden.

 

Aber gerade diesbezüglich hat es nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder auch kritische Überlegungen gegeben, was denn eigentlich die „Glaubensstärke“ und die Verkündigungskompetenz bei Johann Sebastian Bach ausmache [2]. Ungeachtet dessen ist es deutlich, dass der nachmalige Thomaskantor stets als theologisch-musikalischer Sachwalter der Lehre Martin Luthers begriff. Die Gegenpartei in dieser Frage sah keine verlässlichen Äußerungen Bachs selbst, seine Textauswahl etc. sei von Amts wegen erfolgt, seine musikalische Biographie weise keinesfalls ein ultimatives Streben hin zum Kantorenamt auf, dem sinnbildlichen Ausdruck beruflich verankerter Frömmigkeit. Es soll hier aber nicht weiter über das Für und Wider dieses Aspektes in der Rezeptionsgeschichte des Thomaskantors nachgedacht werden. Hingegen möchte seine Musik dahingehend befragt werden, ob nicht musikalische Indikationen hilfreich sein können, diese Frage aufzulösen und womöglich belastbare und erfahrbare Aussagen zu Tod und Leben aus der Sicht Johann Sebastian Bachs machen zu können.

 

Sicherlich ist die Trauerandacht, der Trauergottesdienst – die Kasualie um den menschlichen Tod – ein ritueller und innerer Ort, an dem der Kantor-Komponist autonome Aussagen von seinem Verständnis des Themas machen kann, ohne dass Liturgie und Predigt die prägenden Vorgaben oder Beschränkungen mit sich gebracht hätten. Neben dem Trauergottesdienst bietet hier die Musik für die Karwoche als kirchenjahreszeitlicher Bezugspunkt zum Thema „Sterben und ewiges Leben“ wichtige Indikatoren.

 

Der Bestand seiner theologischen und musikalischen Bibliothek gibt darüber beeindruckenden Aufschluss, wie sehr Johann Sebastian Bach bis in die Tiefe der Zusammenhänge über dogmatische und künstlerische Entwicklungen gerade in diesem Themenfeld im Bilde ist. Vielmehr handhabt er die geistliche und musikalischen Symbiose von Wort und Klang souverän, unerschöpflich wirkend und virtuos nach Belieben.  Geboren im Jahrhundert des Dreißigjährigen Krieges denkt er die Zusammenhänge in der Welt als barocker Denker und Künstler. Geprägt durch die eigene Biographie waren Tod und Sterben musikalisch für zu allen Schaffenszeiten relevant. Der Tod war für ihn, wie für die meisten Menschen seiner Zeit, allgegenwärtig und alltäglich.

 

Sterben, Tod, Trauer und Trost waren viel mehr als heute Teil einer stark ritualisierten Feier der kommunalen und kirchlichen Gemeinschaft. Der Beginn und das Ende des irdischen Lebens, waren im beginnenden 18. Jahrhundert eine der letzten „Wir“-Positionen der mittlerweile durch manche Krise gegangene lutherische Kirchen- und Gemeindestruktur. In diesen Momenten, auf dem Weg zum „Gottesacker“ mit seinem Prozessionscharakter und in der Karfreitagsvesper versammelte man sich unter dem Kreuz Jesu.

 

Da ist es recht erstaunlich, dass die Texte der berühmten sogenannten Sterbekantaten Bachs (BWV 8, 27, 150), wie sie hier heute erklingen, sämtlich in der „Ich“-Form rezitiert werden. Ist es das „Ich“ des im Tode schon Abgeschiedenen, ist es das „Ich“ all derer, die noch in diesem Leben stehen, um die verstorbene Person trauern und unweigerlich ebenfalls einst heimgerufen sein werden? Für Bach kann diese Unterscheidung von keinem bedeutenden Interesse gewesen sein. Denn ganz in der dogmatischen Sicht Martin Luthers stehend, hat er das Diesseits als auf das Jenseits bezogen verstanden. Zwar formuliert Martin Luther in seiner „Zwei-Reiche-Lehre“ eine strikte Trennung der beiden unabhängig voneinander existierenden Ebenen. Die Gesetze der beiden Welten folgten in seinem Glaubensgebäude ganz unterschiedlichen Maximen. Die Erdenwelt und das Reich Gottes konnten verschiedener nicht sein.

 

Es sind aber das schon auf Golgatha seinen Lauf nehmende Heils- und Erlösungsgeschehen und der Kern der österlichen Botschaft, die die Grenzen zwischen hier und dort durchlässig machen. Und dieser Ansatz wird sowohl in den Bachschen Passionsmusiken als auch in seinen Sterbekantaten deutlich. Die musikalische Imagination Bachs lässt da den Hörer mittels musikalischem Kunstwerk zwischen den Welten schwellenlos hin- und herwandern. Er macht so die Erfahrung, dass diese musikalisch-klanglich imaginierte Grenzwanderungen die Furcht und Erregung vor der eigentlich undurchdringlichen Schicksalswand schwinden lassen.

Letztlich ist es das Gesetz von der Gnade und Barmherzigkeit, welches das neue Leben in Gott so schon auf Erden begründet. So verschieden die beiden Sphären nach der Erkenntnis Luthers auch sind, so sehr beziehen sie sich zugleich aufeinander. Das irdische Gesetz muss schließlich in die Wirklichkeit Gottes münden, ist gar in ihm aufgehoben. Diesen komplexen dogmatischen Zusammenhang musikalisch umzusetzen, hörbar zu machen, war für den Komponisten, Kapellmeister und musikalischen Katecheten Bach die größte Herausforderung und seine vornehmste Aufgabe.

 

Die „Ewigkeitsstrophe“ des weihnachtlichen Liedes Fröhlich soll mein Herze springen von Paul Gerhardt, welche Johann Sebastian Bach als zentralen Choral des dritten Teiles seines Weihnachtsoratoriums vertont, weist den Weg. Es war ein Prinzip aller Musikerfindung Bachs. Diese befleißigt sich einer prägnanten Bildsprache. Sie wartet neben dem assoziativen Charakter mit einer eigentümlichen Perspektive auf ein „anderes Leben“ auf. Was ist das „andere“ am „anderen Leben“? Eine andere Zeit, ein anderer Raum? Ist es das Jenseitige, das es zu etwas anderem macht? Die Ewigkeit fungiert in diesem Verständnis nicht als Ausblick, sondern dringt aufgrund ihrer von Erlösung und Heil geprägten Andersartigkeit die Wirklichkeit dieser Welt hinein. Überdies ist hier der Ort, an dem das „ander Leben“ seinen Anfang nahm, in der Offenbarung Gottes in der Gestalt Jesu Christi.

Für Bach stehen nicht die biographischen Horizonte im Mittelpunkt seines Interesses (Geburt, Sterben, Tod, Auferstehen). Die Chronologie des irdischen Lebens vernachlässigt er. Vielmehr wirkt alles  ineinander und ist miteinander verwoben. Zwar spricht er von der Erwartung eines besseren „einst“, doch der tiefe Trost, den der Komponist weiterzugeben vermag, handelt von der Teilhabe schon im hier und jetzt. Er erzählt von demjenigen, der „Trost und Teil“ verspricht. Es ist Christus. Er hat die Macht dazu. Als solcher wird er apostrophiert, er ist der „Herrscher über Tod und Leben“ (BWV 8,6). Er „macht“, er „lehrt“, er „hilft“, er „spricht frei“. Die Attribute des Beistehers, des Freisprechers und dessen, der der Lebende ist, gibt sich zum Unterpfand und Bürgen. Insofern sind das karfreitäglich-österliche Geschehen und das Hinüberübergehen des Menschen wiederum auch ineinander verwoben. Die Treue Gottes („die wird ja alle Morgen neu“ BWV 85) und der Sieg über den Tod („Erscheine mir, seliger, fröhlicher Morgen“ BWV 8,4) ist mehr als Verheißung, es ist die Teilhabe an der „Unio mystica“ im Jetzt. Der alltägliche neue Morgen auf Erden wird zum Vorgeschmack auf den ewigen Morgen, erwirkt am Ostermorgen.

 

In diesem Lichte kann die Gattung der Bachschen Sterbekantate nicht in der klagenden Trauer verharren. Sie muss von diesem Heilsgeschehen erzählen, die Töne sollen erfüllt davon sein. Zuversicht, die Irrelevanz der Zeit, Grenzgängertum und Wirken Gottes im jetzt gereichen der Musik zu einer großen Gefasstheit, Hoffnungsfülle und sinnlichen Leichtigkeit in der Musik Bachs. Nur so ist das „Doch bin und bleibe ich vergnügt“ (BWV 150,3) erklärlich. Zugleich werden im Mitvollzug der Kantate die Bedingungen der irdischen Existenz hinter sich gelassen: „Atem-los, Zeit-los, Schwere-los“.[3] Wie eine werbende Maßnahme setzt Bach Kantabilität, Tanzhaftigkeit und Transparenz in diesem textlichen Sinne ein. Demgegenüber wählt er für das ungetröstete Existieren die bekannten Attribute, die so viele „herkömmliche“ Sterbemusiken ausschließlich bestimmen: Kämpfen (Anapäst), Seufzerfiguren, Gesetz (Kanonbildung), Schmerz (Harmonik), Sterben („haltloses“ kadenzielles Gefälle).

 

Der „Grenzgänger“ Bach macht mit seiner Musik deutlich, dass die qualitative „Grenzencharakteristik“ nicht zwischen dem Aus-dem-Leben-scheiden und dem danach liegt, sondern in der ganz gegenwärtigen Frage, ob sich der Mensch die Teilhabe schon hier in diesem Leben schenken lassen kann. „Der Eingangschor [BWV 8,1] führt dem Hörer in großartiger Vision die Stunde des Todes vor Augen.“[4] Aber auch dies dient nicht als Drohkulisse, sondern Bach zieht den Hörer zurück und verhandelt die ausgebreiteten Dinge im Jetzt.

Bachs Kantaten BWV 8 und 27 stehen als Aussageschwergewichte am Beginn von Bachs Leipziger Zeit. Theologischer Gehalt und musikalische Gewandtheit wollen nicht „unterhalten“, sondern fordern den Hörer, nehmen ihn mit hinein. Da ist kein Raum für „Gefallen finden“. Bach macht die Akzeptanz seiner Musik zu einer theologisch existenziellen Frage, die sich in seinem Klangbild manifestiert. Bach zeigt sich als vortrefflicher musikschaffender Theologe und Katechet.

 

Die Kantate „Nach dir, Herr, verlanget mich“ BWV 150 hat in der Vergangenheit immer wieder Zweifel nach der Echtheit der Bachschen Autorenschaft auf sich gezogen. Die Kargheit der Besetzung (zwei Violine, Fagott und Basso continuo) erscheint manchem für die Urheberschaft Johann Sebastian Bachs nicht vorstellbar, Ungeschicklichkeiten und Stimmführungsfehler eingeschlossen. Das vermutlich in der Mühlhausener bzw. frühen Weimarer Zeit 1708/1709 entstandene Werk könnte auf beschränkte aufführungspraktische Möglichkeiten Rücksicht genommen haben. Die vorfindlichen musikalischen Möglichkeiten fanden Aufnahme in der Partitur. Das Werk verkörpert einen Kompromiss zwischen Anspruch und Machbarkeit, ein Prinzip, das Bach später in Leipzig nicht mehr forciert. Aber gerade in dieser eher archaisch zu nennenden Einfachheit der Kantate BWV 150 liegt der reizvolle Kontrast zu den ausgereiften Werken der Leipziger Zeit Bachs.

 

Diese Karfreitagsmusik, angefüllt mit drei ausdrucksstarken Sterbekantaten, ist als weiteres Ereignis an die musikalischen Beispiele der Bachschen Passionkantaten (Palmsonntag) und die am 18.04. (Ostermontag) folgende Osterkantate „Christ lag in Todesbanden“ BWV 4 eingebunden. Der, der starb und dann den Tod überwand, wird mich im Sterben nicht allein lassen. Darauf vertraue ich, im besonderen auch im Gedenken an die Sterbestunde unseres Herrn.

 

[1] Albert Schweitzer, Bach-Monographie 1908

[2] Hans Heinrich Eggebrecht, „Bach – wer ist das?“, S. 157f., 1994.

[3] Meinrad Walter Das Blut Jesu und die Lehre von der Versöhnung im Werk von Johann Sebastian Bach, S. 158

[4] Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach, S. 613.