Die "kleinen" und die "großen" Konzerte

von Matthias Lotzmann

Die Formate der Barmer Bach-Tage 2021 wechseln zwischen Besetzungen mit kleinem und größerem Ensemble. Einerseits haben sie kammermusikalischen, andererseits repräsentativen Zuschnitt. Gerade im 17. Jahrhundert nimmt die „Music vor die Cammer“ einen großen Aufschwung, ist doch die Gelegenheit für große repräsentative Ereignisse in Folge der Kriegszerstörungen kaum noch gegeben. Ganz eigene Musiziermuster, zudem grundverschieden von den kirchenmusikalischen Formaten, entstehen: „… wenn wir z. E. bermercken, wie dieser oder jener Satz eine vortreffliche Wirckung in Zimmern oder Sälen habe; der doch hergegen seine Krafft in der Kirche gar verlieret. Auch umgekehrt.“  

Das vorfindliche Komponieren ist noch ganz von den imitatorischen Materialbehandlungen des 16. Jahrhunderts geprägt. Die Vervollständigung eines geschlossenen kontrapunktischen Satzbildes soll zur Geltung kommen. Dies wird in der Kirchenmusik noch lange etabliert bleiben.

 

In der Kammer- und Ensemblemusik zeigt sich eine noch größere Experimentierfreude. Man ist freier und nicht so sehr wie z.B. in der Orgelmusik an die Gebote der Repräsentation gebunden. Das Konzert ist am Beginn seiner Entwicklung zunächst Ausdruck einer Musizierhaltung. Bestimmte Musizierpraktiken, das Imitieren von Figuren und der Dialog zwischen einzelnen Instrumenten und Formationen prägen den sogenannten konzertanten Charakter der Musik. Diese Praxis, in Deutschland von Heinrich Schütz (1585-1672) zuerst in seinen Kleinen Geistlichen Konzerten noch während des Dreißigjährigen Krieges vollkommen entfaltet, verfestigt sich dann, weiterhin durch italienische Einflüsse verstärkt,  später im 17. Jahrhundert zu einem festen Formgefüge, im Concerto grosso und Solokonzert. Zuvor ist das Concerto-Prinzip eine spezielle Anordnung des musikalischen Figurenvorrates, also ein bloßes Abwechseln zwischen zwei oder mehreren „Mitstreitern“. 

 

Die besondere Aufmerksamkeit der Barmer Bach-Tage 2021 soll nun der Ensemble- und Kammermusik Johann Sebastian Bachs gelten. Und da sind an erster Stelle sicherlich seine sogenannten „Brandenburgischen Konzerte“ zu nennen. Bach selbst allerdings hat mit dieser Bezeichnung nichts zu tun. Diese Namensgebung hat ihren Ursprung bei dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts berühmten Musikwissenschaftler und Bach-Kenner Philipp Spittas (1841-1894). Er hat die Bezeichnung in seiner in den Jahren 1873 bis 1879 verfassten und weithin beachteten Bach-Biographie geprägt. 

 

Dies ist umso bezeichnender, als dass dieser Aspekt „Preußen-Brandenburg“ in den Jahren nach der deutschen Reichgründung (1871), also erst im 19. Jahrhundert längst nach dem Verblühen der Romantik, unter nationalpolitischen Aspekten stark gemacht werden sollte. Denn die Gestalt Johann Sebastian Bachs eignete sich aus damaliger Sicht vorzüglich, um eine allgemeine und verbindliche kulturelle Identität in Deutschland zu schaffen. 

 

Johann Sebastian Bachs eigene Bezeichnung für seine Werke lautete dagegen ganz unprätentiös und bescheiden: „„Sechs Konzerte mit mehreren Instrumenten“. In der Sprache der zueignenden Diplomatie des 18. Jahrhunderts: „Six Concerts Avec plusieurs Instruments. Dediées A Son Altesse Royalle Monsigneur CRETIEN LOUIS. Marggraf de Brandenbourg &c:&c:&c: par Son tres-humble & tres obeissant Serviteur Jean Sebastien Bach, Maitre de Chapelle de S. A. S. Prince regnant d’Anhalt-Coethen.“ Aber was für ein musikalischer Kosmos steht uns hier in sechs Abteilungen vor Augen!

 

Johann Sebastian Bach hat diese Werke nicht aus dem nachfolgenden Widmungsanlass geschaffen, sondern für diesen schon vorhandene Kompositionen zusammengestellt. Es darf davon ausgegangen werden, dass Teile der Konzerte sogar schon aus seiner Weimarer Zeit (1708-1717) stammen, also Beispiele noch aus Bachs früher Zeit darstellen. Aber erst in Köthen findet er ideale Schaffens- und Aufführungsbedingungen vor. 1713 hatte der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. von Preußen die Berliner Hofkapelle aufgelöst und die hoch qualifizierten und spezialisierten Musiker in die „Unabhängigkeit“ entlassen. Wie bekannt, hat der König eine Vorliebe für „lange Kerlls“ aber nicht für eine exquisite Hofmusik. Die Musiker fanden in Köthen ihre neue Heimat. Die dortige Fürst, Leopold von Anhalt-Köthen (1694-1728) war ein stets kränkelnder Mann, hatte Diabetes mellitus und war mit einem schweren Herzfehler geboren. Die angestrebte militärische Generalslaufbahn blieb eine abstruse Illusion. Stattdessen aber ließ er sich zum fundierten „Berufsmusiker“ ausbilden, beherrschte die Gambe, die Violine und das Violoncello perfekt. Er hatte nun für den Spiegelsaal seines Hofes die idealen Bedingungen geschaffen, um Johann Sebastian Bach „herbeizulocken“ und ihn an in der Zeit von 1717–1723 zu binden. 

 

Es ist heute unvorstellbar: Das kleine Köthener Fürstentum gab ein Drittel (!) seines Staatsetats für die fürstliche Musik aus. Köthen – ein musizierende Staat. Und der Fürst: Der „erste Diener“ seiner eigenen Kapelle, siebzehn Köpfe zählend, allesamt musikalische Alleskönner. Sein musikalisch „Vorgesetzter“, persönlicher Lehrer und Kapellmeister: Der geniale Johann Sebastian Bach. Im übertragenen Sinne darf man also durchaus sagen, dass Bach die „Leitung“ dieses kleinen mitteldeutschen, zwar politisch und militärisch unbedeutenden Fleckens inne hatte; musikalisch war Köthen eine „Großmacht“. Vor diesem drastischen Hintergrund erwachsen folgende Einsichten, die das Agieren Bachs nach 1720 erklären und plausibel erscheinen lassen. Darum hat es ihn letztendlich fortgezogen: Denn die Idylle in Köthen war eine fragile und deshalbtrügerische. Nicht die amusische Haltung der zweiten Fürstin war ausschlaggebend (wie Bach das in dem berühmten Brief an seinen Schulfreund Erdmann als Grund für seinen Weggang nach Leipzig anführt). Der Fürst war zeitlebens schwerkrank, Leopolds Ableben in den Jahren nach 1717 eine Frage von kurzer Zeit. Der angeborene schwere Herzfehler und verhießen nichts Gutes. Und dies trat dann auch bald, 1728, ein. Leopold verstarb im Alter von nur 34 Jahren. Und Bach stand, aus Leipzig herbeigeholt, die Sterbekantate (BWV 244a) musizierend in der Fürstengruft. Die Musik ist verloren gegangen; sie bestand aber aus einer Trauerode und Teilen der Matthäus-Passion.

 

Bachs eigene Ehefrau, Maria Barbara fand er, von einer Karlsbadreise nach Hause kommend, verstorben und längst bestattet vor. Es war auch im persönlichen Leben eine weitere tiefe und bekümmernde Zäsur. 

 

Und letztens war es lediglich einem glücklichen, von der Hand des Fürsten beförderten Umstandes zu danken, dass sich die besten Musiker der Zeit in Köthen versammelt hatten. Die Kapelle wurde 1725 aufgelöst, als hätte es sie nicht gegeben. Plötzlich und unvorhersehbar, alles abhängig von der Fürsten Gusto. Bach wollte Sicherheit und sich nicht stets fürstlicher Unberechenbarkeit ausgesetzt sehen, der persönlichen Freundschaft zu Leopold zum Trotz. Dieser ließ ihn schließlich, anders als vormals in Weimar, in Frieden ziehen, vielleicht seine eigenen Geschicke kommen sehend.

 

Es ist also ein Glücksfall der Musikgeschichte, dass diese ausgereiften, heute Brandenburgischen Konzerte heißende Konzerte in Köthen ihre perfekte Gestalt bekommen haben. Nicht weniger, um später in den Leipziger Kantaten nach 1726 thematisch wieder aufzutauchen und Verwendung zu finden. In jedem dieser Konzerte findet Bach besondere Formlösungen, die mit der Verwendung der jeweiligen Soloinstrumente zusammenhängen. Alle gängigen Instrumente der Zeit finden Verwendung. Es gelingt ihm so eine Vielfalt von musikalischen und strukturellen Erscheinungsbildern, die der Entwicklung des Konzertes, insbesondere des Solokonzertes ganz neue Räume öffnen. 

 

Das fünfte dieser Konzerte ist an und für sich eigentlich ein Tripelkonzert, ein Werk, in dem drei Soloinstrumente mit dem Ensemble ein Concerto grosso musizieren, für Violine, Flauto traverso und das Cembalo. Das verwundert umso mehr, dass das Cembalo als dominierendes Contiuno-Instrument seit hundert Jahren wichtige und vielfältige Aufgaben hatte. Dass es nun zu einem ensemblebegleiteten, gleichwertigen Soloinstrument neben zwei anderen wurde, erstaunt. Bach denkt und erfindet das bekannte Instrument neu. Aber das ist noch nicht alles. Im Laufe des ersten Satz verstummen Violine und Querflöte nach und nach auf kunstvolle Art und Weise. Von Abschnitt zu Abschnitt wird ihr Beitrag sporadischer, bis letztlich alles in einer aberwitzigen und Bach-typischen virtuosen Kadenz dem Cembalo untertan wird. Bach hat das Werk für ein konkretes Cembalo aus der Berliner Werkstatt des renommierten Michael Mietke (1679–1721) komponiert, dass er selbst abgeholt und im Köthener Schloss bereitgestellt hat. Dieses D-Dur-Konzert ist das erste Klavierkonzert der Musikgeschichte überhaupt.

Die Bachsche Musik wird in der Barmer Bach-Tagen 2021 an vier Abenden, in sogenannte „große“ und „kleine“ Konzerte gegliedert, in Anlehnung an die mitteldeutsche Aufführungstradition. Und es ist auch nach seinem Wechsel nach Leipzig 1723 zu sehen, dass Bachs Bestreben sich nach dem Dresdener Hof zu orientieren, nicht nur mit dem Versuch zusammenhängt, Unabhängigkeit von der Leipziger Obrigkeit zu erlangen. Sein langjährig verfolgtes Anliegen, den Titel des königlichen Hofkapellmeisters zugesprochen zu bekommen, sollte nicht zuletzt auch zeigen, wie sehr der nachmalige Thomaskantor auch hinsichtlich der Ensemblemusik auf der Höhe der Zeit war. Das Unterfangen scheiterte schließlich. Der Titel lautete dann lediglich „Hofcompositeur“, eine Ernennung zweiter Klasse. 

 

Die Dresdener Hofkapelle aber war nicht nur ein europäischen Zentrum der modernen italienischen Musik, sondern in der ersten Hälften des 18. Jahrhunderts auch führend in der Entwicklung einer neuartige Aufführungskultur, die wenige Jahrzehnte später mit zur allgemeinen Bezeichnung von „Orchester“ führen sollte. 

 

Federführend war in der Elbmetropole der kosmopolitische Komponist, Konzertmeister und spätere Kapellmeister Johann Georg Pisendel (1687–1755), der als bedeutendster Violinist des deutschen Barock zu gelten hat. Als Schüler von Giuseppe Torelli (1658–1709) und Antonio Vivaldi (1678–1741) in Italien leitet er die italienische Musik in Dresden. Musikalische Erfahrungen aller Art sammelte der im Auftreten bescheidene Wahldresdener im gesamten Europa. 

 

Die früher der später berühmten Mannheimer Hofkapelle zugeschriebenen Neuerungen hinsichtlich der Homogenität des Klangbildes waren in Dresden  in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts musikalische Wirklichkeit.

 

Auch Johann Friedrich Fasch (1688–1758), seit den gemeinsamen Leipziger Tagen freundschaftlich verbunden, muss heute ebenfalls als ein musikalischer Neuerer erkannt werden. Seine Modernität hat neben der Musiksprache Bachs Bestand. Er war zwischen 1701 und 1708 Alumne unter Johann Kuhnau (1660–1722) an der Thomasschule in Leipzig. Kompositorisch setzte er sich seit dieser Zeit mit einer kombinierten Instrumentalmusikgattung auseinander: der Ouvertüren-Suite. Seine Orientierung hier waren die Vorbilder im Werk Georg Philipp Telemanns (1681–1767), der in jener Zeit des Collegium Musicum an der Leipziger Universität war. Telemann verkörperte einen vollkommen neuartigen Musikstil. In seinen autobiographischen Skizzen vermerkte er, dass er eine seiner Ouvertüren auf einer Veranstaltung der Primaner als Werk des verehrten Vorbildes ausgab. Aus seinen späteren Werkangaben geht hervor, dass die meisten seiner Ouvertüren-Suiten während der Zeit seiner Anstellung als Hofkapellmeister unter Johann August (1677–1742) von Anhalt-Zerbst in der Zeit nach 1722 verfasste.

So erzählt er in seiner Autobiographie, wie er eine Ouvertüre nach dem Vorbild Telemanns komponierte und diese bei einer musikalischen Veranstaltung der Primaner als Werk von Telemann ausgab. Den äußeren Merkmalen der Quellen zufolge schrieb Fasch die meisten Ouvertüren-Suiten seit 1722, dem Jahr seiner Anstellung als Kapellmeister am Hof Johann Augusts von Anhalt-Zerbst (1677–1742). Die unverkennbare Art der Instrumentierung und Führung der Solovioline lässt auch dieses Werk als eine Verneigung vor dem verehrten Freunde Pisendel erscheinen. Im Index der Concert=Stube des Zerbster Schlosses finden sich viele Beispiele dieser Gattung aus der Feder von Fasch. Aus dieser Quelle bediente er sich aber auch, wenn er Musiken an die Höfe von Dresden und Darmstadt versendete. In dem 1743 erstellten Verzeichnis sind von ihm 69 Werke dieser Gattung aufgeführt. Einen großen Teil der in Zerbst komponierten Ouvertüren-Suiten sandte Fasch aber auch über längere Zeit relativ kontinuierlich an die Höfe in Darmstadt und Dresden. Das heute erklingende Werk, Johann Friedrich Faschs (1658) Ouvertüren-Suite A-Dur mit konzertierender Violine, entstand zwischen 1735 und 1740.     

             

Schließlich spannt ein ganzer Kammermusikabend (I) das Spannungsfeld zwischen den sich ganz und gar respektierenden Antipoden Georg Philipp Telemann und Johann Sebastian Bach auf. Schon das Patenamt Telemanns zum Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel zeigt an, dass eine gegenseitige stilistische Abkehr voneinander das Konstrukt einer späteren Epoche war. Einige der Kantaten, die man einst für Werke Bachs gehalten hat, sind heute zweifelsfrei der Feder Telemanns zuzuordnen. Auch ist es müßig, dem „Vielschreiber“ Telemann seine handwerkliche Souveränität aberkennen zu wollen. Die heute aufeinanderfolgenden Werke Telemanns und Bachs („Strafe mich nicht“ und „Bekennen will ich seinen Namen“) führt vor Ohren, wie unmittelbar affektiv die Musik des Wahl-Hamburgers daherkommt. Die Kategorie des musikalischen natürlichen „Ausdrucks“, wie ihn die Klassik einfordern wird, ist da nicht mehr weit.