Zum Programm Orgelkonzert I mit Mathias Lotzmann

Eines der besonderen Kennzeichen des nachmaligen Thomaskantors Johann Sebastian Bachs (1685-1750) war sein Bestreben, sich in musikalischen und theologischen Belangen umfassend ausbilden zu lassen und selbst auszubilden. Dieser in Anekdoten niedergeschlagene Prozess endet nicht mit dem Eintritt in die diversen beruflichen Anstellungen nach 1700.

 

Im Gegenteil: Dieser Vorgang bestimmt sein ganzes Leben und ist idiomatisch für die Vielgestalt seines gesamten Schaffens. Auch macht ihn dieses Angetriebensein zu einer Ausnahmeerscheinung in seinem zeitgenössischen Umfeld. Die später von Carl Philipp Emanuel Bach kolportierte Äußerung des Vaters über sich selbst, wer eben so fleißig sei wie er gewesen, wird es genau so weit bringen, mag als ein Schlaglicht auf die Universalität und das Vermögen dieser Gestalt gelten.

 

Johann Sebastian Bachs Können trinkt aus vielen Quellen; wenn man die Titel seiner musikalischen und theologischen Bibliothek und seiner Notensammlung berücksichtigt, aus allen ihm zugänglichen. Eine von diesen Quellen sind die Besonderheiten der norddeutschen Orgelmusiklandschaft. Und in diesem Zusammenhang muss man sicherlich die Fußreise des jungen Arnstädter Organisten zum alten Dietrich Buxtehude (1637-1707) nach Lübeck (November 1705 bis Februar 1706) sehen. Was mag ihn zu einer mehrwöchigen Überziehung seines Bildungsurlaubs zum Verdruss seiner Vorgesetzten veranlasst haben, alle unangenehmen Folgen in Kauf nehmend? Was hat er sich Begegnung mit Buxtehude versprochen, was nicht schon aus dem Studium des Notentextes allein hervorging? War er Aspirant auf die renommierte Position an St. Marien in Lübeck und zog sich beim Anblick der mäßigen Schönheit der Buxtehudeschen Tochter, die es für diesen Fall zu ehelichen galt, zurück?

 

Sicherlich hängt die Beantwortung der ersten Frage unmittelbar mit der spielpraktischen Anforderungen des norddeutschen Orgelwerkes zusammen. Das “lebendige Spiel” als Teil eines ominösen Stylus phantasticus mag der Hauptgrund hierfür gewesen sein, weshalb es also mit einem mehrtägigen Besuch im Haupt der Hanse nicht getan sein konnte. Das Programm des heutigen Abends, Johann Sebastian Bach und der Stylus phantasticus, möchte Ihnen klingend erläutern, wie intensiv diese Art des Musizierens nicht nur in die praktische Ausführung, sondern wie sie auch prägend in die unverwechselbare kompositorische Gestalt der Bachschen Orgelwerke eingegangen ist. Die Spanne der heutigen Werkfolge reicht vom bedeutenden Schüler Heinrich Schützens, Matthias Weckmann (1621-1674), bis hin zum von Bach selbst hochgeachteten Husumer Kantoren und Buxtehude-Schüler Nicolaus Bruhns (1666-1697). Die Einflussnahme des norddeutschen Stils gerade auf das Choralwerk des nach Arnstadt zurückgekehrten Musikers ist frappierend. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass man ihm zu Hause nach dem Urlaub vorwarf, er würde die Gemeinde durch sein Spiel ”confudieren”. Geht es Ihnen da im Verlauf des Abends nicht ähnlich? Die Beispiele der hier erklingenden Choralbearbeitungen erscheinen daher im Wechsel. Jedem “norddeutschen” Beispiel folgt das jeweilige Stück Bachs aus seiner Arnstädter bzw. Weimarer Zeit, um den jeweiligen Vorbild bzw. Nachahmungscharakter deutlich zu machen, aber auch, um die Weiterentwicklung durch Bach zu kennzeichnen.

 

Drei große freie Orgelwerke in G-Dur gliedern das Programm und zeigen, dass nicht nur die an einen Choraltext gebundenen Werke, sondern auch die “freien” vom “lebendigen Stil” durchdrungen sind. In einer zum Teil bizarren und extravaganten Art begegnet uns diese Musik noch heute. Sie lässt uns nicht einfach genussvoll lauschen und zufrieden sein. Sie will uns wirklich erschüttern und bewegen, korrigieren und uns für die in ihr verborgenen Texte und Anschauungen von der Welt öffnen. Ja, diese Musik setzt sich tatsächlich deutlich von den ästhetischen Forderungen der frühaufgeklärten Zeit nach 1700 ab. Denn diese möchte den Bürger als Adressaten haben, auch wenn er sich in die Thomaskirche begab, und nicht die kirchliche Hörergemeinde angesprochen wissen. Da galt es zu unterhalten, aufzumuntern, zu beruhigen und das Gemüt zu ergötzen.

 

Johann Sebastian Bach hingegen, dem Vermächtnis seiner Quellen treu, ging es stets um mehr: um sein oder nicht sein im theologisch-dogmatischen Sinne in seiner musikalischen Sprache.

 

Die Adaption des Opernstils des 17. Jahrhundert und der sogenannte monodische Stil führen in seiner Musik dazu, dass es nicht mehr nur die überkommenen variativen Verarbeitungstechniken sind, welche die Werke kennzeichnen. In diesem Zusammenhang ist die Eröffnung der am 2. Januar 1768 eröffneten Oper am Gänsemarkt in Hamburg von nicht zu überschätzender Bedeutung. Somit hält eine spannende, stets in der Verantwortung zum Worttext stehende Dramaturgisierung in der Musik Einzug, was sie vollends im Werk Bachs zur Tonkunst macht. Hinter jedem Ton, gar dieser Werke, geprägt vom Stylus phantasticus, schimmert ein Zug nach welt-, gott- und menscherklärendem Wahrhaftigkeitsstreben auf, was ihn damals aber auch uns zu einem durchaus Unbequemen macht. Das aber tut unserem Spiel und Hörgenuss sicherlich keinen Abbruch. Fast ist der Begriff zum Synonym für die Musik des gesamten norddeutschen Raumes geworden. Eine Vielzahl von tontechnischen Besonder- und Unverwechselbarkeiten, von Figurenhandhabung (Sequenz, Entfaltung, Entwicklung, Fragmentierung etc.) führen zur Ausprägung einer konkreten Syntax, die zur konkreten und unmissverständlichen Aufnahme der Musik und des einzelnen Werkes führt. (Verwiesen sei diesbezüglich auf den Beitrag „Der Stylus phantasticus in der nord- und mitteldeutschen Orgelmusik“ in dieser Broschüre. Sowohl die hier erklingenden Werke von Mattias Weckmann, Nicolaus Bruhns als auch bei Johann Sebastian Bach basieren figuristisch/thematisch auf dem Einsatz des identischen Fragmentes eines Reperkussionsthemas. Herrührend aus der gregorianischen Gesangspraxis der besonderen Artikulation von Tonwiederholungen gerät die Figur zu einem typischen Kennzeichen des Kanons im norddeutschen Raum. Hier ist sie ganz zur autonomen rhetorischen Figur geworden. Die mit ihr stets in Verbindung stehende Form des Kanons, Ricercar oder Fuge kennzeichnet sie als den Inbegriff des „Rechtes“ und der „Rechtmäßigkeit“ eines Prozesses oder einer Erkenntnis. Sie findet sich daher stets am Ende eines zyklischen Komplexes. Die Entwicklung in der Handhabung dieser Praxis von Weckmann bis Bach über fast hundert Jahre zeigt, wie wichtig und stilbildend sie, aber mehr und mehr virtuos sie in der Handhabung ist.

 

Auff unsere Zeiten [ist] die Musica so hoch kommen daß wegen Menge der Figuren […] sie wohl einer Rhetorica zu vergleichen“ [1]

 

Jedes dieser folgenden Werke ist über die allgemeine Stilbildung hinaus ein Unikat. In besonderer Weise aber erregt die Choralbearbeitung Ich hab‘ mein Sach‘ Gott heimgestellt von Delphin Strungk (1601-1694), dem Braunschweiger Organisten an der Altstadtkirche St. Martini, unsere Aufmerksamkeit. Es ist ein zyklisch durchkomponiertes Werk von immenser Geschlossenheit. Die formbezogenen vier ineinander übergehenden Variationen beziehen sich nicht etwa auf einzelne Strophen des zwölfstrophigen Liedes von Johannes Leon, sondern bearbeiten den zur Verfügung stehenden Vorrat an Formen der damaligen Zeit. Dies eine wegweisende Technik, die über die Praxis des Versus-Zyklus der Zeitgenossen weit hinausgeht.

 

Delphin Strungk komponiert das Werk in einer ununterbrochenen Variationen-Kette:

1. Variation: Übertragung des motettischen Satzbildes auf die Orgel.

 

2. Variation: sowohl Figuration als auch Kolorierung des Cantus firmus im Sopran, Erscheinen des Cantus firmus auch im Tenor, starke klangliche Kontrastbildung zwischen Hauptwerk und Rückpositiv, energetische Dynamik.

 

3. Variation: Figuration und Laufwerk wechseln nun in die Unterstimme, als hätten der Sopran des zweiten Teils und der Bass der dritten Variation miteinander einen Dialog. Dieser wird klanglich ausgetragen, aber auch hinsichtlich der Figuren. Denn in der dritten Abteilung sind es die Figuren, die die zukünftigen Kadenzmuster aufleuchten lassen.

 

4. Variation: Beziehen sich zweite und dritte Variation im Zwiegespräch aufeinander, erfährt das dialogische Prinzip in der vierten Variation ihren Höhepunkt. Rede und Gegenrede verdichten sich mit zunehmender Dauer des Stückes in einer Weise, die das Zuhören anstrengend macht. Das permanente Vor- und Nachgehen rüttelt zerrt an den Nerven. Und das soll es auch. Aus einem Disput, wird ein rechthaberisches Nachjagen, das in seiner Kleingliedrigkeit verwischt, wer eigentlich vor- und nachgibt. Aus der Echowirkung wird ein Ineinanderwirken der Figuren. Eine Identifikation der Beteiligten ist fast unmöglich. Chromatische Einsprengsel, übermäßige Tonschritte und halsbrecherische Skalen erwecken eher den Eindruck eines Gefechtes. Pardon wird da nicht gegeben! Die Rhetorik scheint hier an ihr Ende gekommen zu sein. Kurz vor Beginn des Finales folgen dann zwei kurz zu haltende Achtelnotenwerte, die wie eine nachäffende Geste wirkt. Endet es mit einem Unentschieden und hakt die Forte-Partei auf dem Oberwerk nach.

 

5. Variation: Erst das Erscheinen des Finales bringt in seiner großen Prachtentfaltung eine Befriedung der Szene. Es hat die Wirkung, schaffe das Eintreten des Souveräns die erforderliche Ordnung und Richtung. Auch hier sind die auffälligen Sopranfigurationen vorhanden. Sie knüpfen an die Technik der zweiten Variation an, sind aber in ihrem Ausmaß noch umfänglicher, umspannen sie doch den gesamten Tonraum des Instrumentes. Das vermag im rhetorischen-gestischen Sinne wirklich nur ein „pater omnipotens“, in dessen Wille meine Sach‘ heimgestellt ist. Allein die dreiundneunzigjährige Lebenszeit von Delphin Strungk macht ihn zu einem wichtigen stilistischen Bindeglied von der Zeit Heinrich Schützens und der von Johann Sebastian Bach. Als solcher tritt er als zweiter Gewährsmann an die Seite von Johann Adam Reincken, welcher, fast hundertjährig, den jungen Bach zum Vorspiel an St. Katharinen in Hamburg empfängt. Reincken spricht Bach seine vollkommene Kompetenz im Darstellen des Stylus phantasticus in seinen An Wasserflüssen Babylon zu. Reincken spricht zu Bach: „Ich dachte, diese Kunst wäre gestorben, ich sehe aber, daß sie in Ihnen noch lebet."



[1] Heiko Maus, Matthias Weckmann - Das Leben des Hamburger Jacobi-Organisten und sein Schaffen für die Vox Humana,, Nordhausen 2016, S. 86