Gedanken zum späten Bildnis Johann Sebastian Bachs

von Matthias Lotzmann

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Das Bildnis, das der Leipziger Portraitmaler Elias Gottlob Haußmann (1695-1774) im Jahre 1746 anfertigte, zeigt den Thomaskantor Johann Sebastian Bach im Alter von 61 Jahren. Was mancher nicht weiß: Zwei Jahre später malte Haußmann ein weiteres, auf den ersten Blick identisches, heute in einem besseren Zustand erhaltenes, Gemälde. Es zeigt Bach allerdings in einer deutlicheren Kontur und in einer vitaleren und frischeren Verfassung. Es wirkt repräsentativer. Anlass und Darstellung sind zueinander stimmig: Es entstand als ein Dokument. Denn es diente der Vorbereitung des Eintritts Bachs in die Correspondierende Societät der musicalischen Wissenschaften. Diese war im Jahre 1738 von Lorenz Christoph Mizler (1711-1778) gegründet worden. Mizler war Schüler bei Bach. Seine Verehrung für Bach und dessen Werk einerseits und seine philosophischen und musiktheoretischen Äußerungen im frühaufklärerischen Umfeld vor allem der Philosophie Christoph Wolffs kennzeichnen ihn als ein wichtiges Bindeglied zwischen Johann Sebastian Bach und dessen Umgebung. Die lange unterschätzte Verbindung zu Mizler lässt das letzte Lebensjahrzehnt Bachs in einem besonderen Lichte erscheinen. Von Mizler stammt die erste umfangreiche Biographie über Johann Sebastian Bach.

 

Aber welchen Beweggrund aber wird der Antrieb für das zweite Werk gehabt haben. Sicherlich wird der Bedarf nach einer größeren Repräsentationsqualität wichtiger geworden sein. Das legt nahe, dass das Bild von 1746 eine geringere Vorzeigbarkeit verkörpert haben könnte. War es dafür aber womöglich näher an der Wirklichkeit?

Dieses erste Bild wurde im Laufe der Zeit mehrfach „übermalt“ und „aufgefrischt“, wodurch wichtige ursprüngliche Merkmale verlorengingen. Es befindet sich seit 1913 im Besitz des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig. In der Folgezeit wurde versucht, den Erstzustand wiederherzustellen.

 

Welch einen anderen Grund kann denn das Schaffen eines Bildnisses haben, wenn nicht den einer höchst mögliche Deckungsgleichheit mit der Realität? Es ist kaum davon auszugehen, dass sich Bach 1748 in einem gesundheitlich besseren Zustand als 1746 befunden haben könnte. Aber genau diese Realität ist aber doch für uns heute ein „Strohhalm“, über den wir ein wenig näher zu dem „echten“ Johann Sebastian Bach rücken können! Kehren wir also zur Betrachtung der Erstfassung von 1746 zurück.

 

So sehr ich mich in der Musik Bachs beheimatet fühle, so sehr ist mir dieses Bild entgegen aller Detailbeobachtungen immer fremd geblieben, weil die Geste und Mimik Bachs hier für mich nicht zu entziffern waren. Häufig habe ich versucht, mir eine Vorstellung zu machen; habe mir auszumalen versucht, als könnte es sich imaginär bei diesem Portrait um das Standbild einer angehaltenen Bewegung oder den eingefangenen Moment einer unterbrochenen Rede handeln. Es half nicht. Und es blieb die Frage, warum der Musiker Johann Sebastian Bach, der in seiner Leipziger Zeit in das Zentrum einer musikästhetischen und auch sonst umfänglichen Kritik („der Cantor ist incorrigibel …!“) geraten war, oder wie sich bei näherer Betrachtung herausstellen könnte, aufgrund seines Wirkens sich bewusst hineinbegeben hatte.

 

Ein Botschaft des Bild ist deutlich: Dieser Bach rechtfertigt sich für nichts.

Wie anders wäre es zu deuten, dass der Abgebildete meinen Blick nicht sucht, im Gegenteil. Der Betrachter scheint für ihn von gar keinem Interesse zu sein. Er blickt an ihm vorüber, einer Kontaktaufnahme ausweichen wollend. Streng erscheint er mir.

 

Der dunkle Teint und die exponierte Asymmetrie des Antlitzes, dazu der gegen die Richtung des Rumpfes gedrehte Kopf, lassen auch den Eindruck einer gewissen Unbeholfenheit aufkommen. Dieses ungelenk anmutende Wesen steht doch der Würde und Erhabenheit, die eigentlich das Anliegen des Bildes sein will, entgegen. („Sein von Natur etwas blödes Gesicht, welches durch seinen unerhörten Eifer in seinem Studiren, wobey er, sonderlich in seiner Jugend, ganze Nächte hindurch saß, noch mehr geschwächet worden, …“ , Carl Philipp Emanuel im Nekrolog über den Vater) Das Körperspiel wirkt eher plump und die Silhouette unvorteilhaft. Er entfaltet keine den Betrachter für sich einnehmende Haltung. Es entsteht keine Verbindung. Auch verströmt seine Haltung merkwürdigerweise keine unangefochtene Souveränität. Es ist dies kein Dokument von Kraft und künstlerischer Stärke, wie etwa die Pose, in der Heinrich Schütz sich einst hat malen lassen, das Notenblatt zusammengerollt wie einen Marschallstab haltend und – die Szene und den Betrachter zugleich durch seine Kunst beherrschend.

 

Dieser Bach will nichts vom Betrachter. Er fordert nichts ein. Noch nicht einmal Aufmerksamkeit. Es gleicht eher der Aufforderung zu gebührenden Abstand. Bitte keine falsch zu deutende Nähe! Der Mann ist im Dienst. Perücke und Rock beweisen es doch; zunächst. Hinter diesem Dienstverständnis tritt der Mensch Bach ganz und gar zurück, will den Betrachter mit dieser Enttäuschung geradezu provozieren.

 

Liegt es aber nicht im Sinne eines Portraits, dass es betrachtet werden soll, werden will?! Weshalb sonst wird es in Auftrag gegeben? Aber was soll denn vom Betrachter ergriffen werden?

 

In meiner Anschauung heute ist es kein Portrait, vielmehr ein Nicht-Portrait.

Perücke und der mit Silberknöpfen applizierte Kantorenrock ist offen und gibt den Blick auf ein weißes Wams frei, den Hals in sich bergend und hoch geschlossen. Sucht er die offizielle Anerkennung durch das Zeigen der Insignien seines Amtes? Aber auch hierzu will der geöffnete Rock nicht passen. Der Saum fließt an der Form des Leibes hinab und mit ihm die gewollte Flucht der Silberknöpfe, sich in der Manschette fortsetzend. Das passt nicht zur Außergewöhnlichkeit der verwendeten Materialien, das teure Silber, der wertvolle dunkelgrüne Samt, die gepflegte, wohl gesetzte Perücke. Der Betrachter ahnt, dass nicht nur er, sondern auch die genannten Insignien nicht im Darstellungsinteresse des Gemalten selbst stehen. Es drängt sich mir der Eindruck eines doppelten Verweigerungsaktes auf. Dieser Thomaskantor wirkt auf mich, als sei er tatsächlich fertig mit Obrigkeit und vorgesetzten Institutionen, aber auch mit den Moden seiner Zeit, z. B. der, eine Empfindung zu zeigen, oder sie gar zur Grundlage seiner bildlichen Darstellung zu machen (machen zu müssen).

 

Das Licht aber erfasst die jugendlich wirkende und dynamisch dargestellte rechte Hand, welche zur eigentlichen Botschaft des Bildnisses führt, dem beschrifteten Notenblatt. Das Notenpapier wird in Richtung des Betrachters gehalten, so dass dieser es lesen kann. Auf dem Blatt ist in der unverkennbaren und vollkommenen Handschrift Johann Sebastian Bachs (für mich persönlich die schönste mir bekannte) ein Rätselkanon notiert. Dieser firmiert heute unter der BWV-Nummer 1076. Auf diesem Blatt bündelt sich der Lichtfall des Bildes; will sagen, dass nicht das Antlitz des Körpers, sondern dieses Stück Papier der Zugang zu dem ist, was er uns frei gibt. Als wolle Bach sagen, dass wir darüber und alles Wichtige ins Gespräch kommen könnten. Dies ist die Eintrittspforte. Aber es gibt eine Voraussetzung: Löse das Rätsel!

 

Mit dieser sphinxhaften Aufforderung setzt sich Johann Sebastian Bach aber zugleich wieder von uns ab. Denn er ist schließlich der Verfasser. Ihm ist das Rätsel kein Rätsel. Denn er ist es ja, der das Geheimnis formuliert hat. Womöglich hat er Dinge durchdrungen und geschaut, die sich ausschließlich durch die Überwindung ihrer Verborgenheit und durch das Eintauchen in dieselbe erkennen lassen. Diese Verborgenheit ist dem „Nicht sehen und doch glauben“ verwandt. Es ist zu bedenken, dass neben der ausgewiesenen Meisterschaft Johann Sebastian Bachs – dies ist der äußere Anlass für das Bildnis - hierin ein kritisches Moment wohnt. Denn der unmittelbare Eindruck von Natur und Dingen, sondern ein auslegungs- und erklärungsbedürftiges Geheimnis könnte allem innewohnen, das in uns wohnt und was uns umgibt.

 


Die Silberstiftzeichnung aus dem Bachhaus in Eisenach

von Matthias Lotzmann

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Nebenstehende Abbildung ist eine Silberstiftzeichnung mutmaßlich Johann Sebastian Bach zeigend. Sie ist im Bach-Haus in Eisenach/Thüringen zu besichtigen. Dieses Bild unterscheidet sich erheblich von allen anderen Darstellungen Johann Sebastian Bachs. Denn es weist einen menschlichen und unverstellten Zug der abgebildeten Person auf und ist deshalb so ungeschönt authentisch. Bedrückend nah erscheint uns dieser, vom Leben gezeichnet und auch angefasst. Daran ändert auch die nicht ganz unvorteilhaft wirkende Perücke nichts. Dieser Mann erscheint hier in nicht aller gesündester Verfassung, womöglich gar um seine unvorteilhafte Wirkung wissend. Das Bild mag auch dokumentieren, wie sehr sich eine höchste Dauerarbeitsbelastung als Thomaskantor und das Amt des „Director musices“ über Jahre auf die Erscheinung auswirken.