Dr. Matthias Lotzmann:

Zugänge zur 2. Fassung der Johannespassion (1725) von Johann Sebastian Bach

Es ist eine nicht endende Geschichte. So steht die Vertonung der Passionserzählung des Evangelisten Johannes in ihren unterschiedlichen Fassungen im Gesamtwerk Johann Sebastian Bachs (1685-1750) einzig dar. Mit keinem anderen Werkgegenstand hat sich der Thomaskantor, und dies wahrscheinlich schon vor Beginn seiner Leipziger Zeit ab 1723, über einen derart langen Zeitraum so intensiv auseinandergesetzt wie mit seiner (seinen) Johannespassion(en). Vermutungen gehen sogar dahin, dass schon seit 1717 das Vorhaben einer oratorischen Passion nach Johannes bei Bach präsent war. De facto fast die gesamte Dauer seines Thomaskantorates in der Zeit von Karfreitag 1724 bis in das Frühjahr seines Todesjahres 1750 ist von der Arbeit an diesem Stoff geprägt. 

Es hat den Anschein, als sei es bei Bach ein musikalisches und theologisches Kreisen, eine Zentrierung um den Stoff der johanneischen Sicht auf die Gestalt Jesu Christi gewesen. Der Beschäftigung mit dem Text nach Johannes ist im Leben Bachs sicherlich eines der großen Kontinuen gewesen. 

 

Diese letztlich permanente Auseinandersetzung mutet gar wie eine mystische Übung an. Dabei sind die Rahmenbedingungen hierfür alles andere als günstig.  Denn die Beschäftigung mit dem Stoff fällt in eine Zeit, in der schon die Theologie der Frühaufklärung aufgrund einer unterstellten mangelnden Sachlichkeit einen problematischen Umgang mit dem Johannesevangelium hat. Und auch allen Ansagen der geistlichen Leipziger Obrigkeit zum Trotz bleibt Bach diesem Sujet treu. Es hat den Anschein, als verbinde er seine theologisch-musikalische Identität mit der Sichtweise dieses Evangelisten. 

 

Dabei scheute er weder Mühen noch Kosten. Bis zu zwanzig Kopisten hat Bach im Laufe der Jahre mit dem Abschreiben von Stimmen und Partituren des Johannesstoffs beschäftigt. Sie alle haben ihre Spuren in den unterschiedlichen Fassungen des Werkes hinterlassen. Aber wie geht es zusammen, dass das Genie eines Johann Sebastian Bach mit einem Stoff regelrecht ringt und nicht fertig zu werden scheint? Was ist denn hier so ganz anders, als im Falle der Matthäuspassion, die innerhalb von nur neun Jahren nach ihrer Urfassung ihre letztgültige Gestalt in der wunderbaren autographen Prachthandschrift Bachs aus dem Jahr 1736 fand? 

Drei Jahre später, im Frühjahr 1739, misslingt das gleiche Unterfangen hinsichtlich der Johannespassion. Und diese sollte bis zu Bachs Lebensende ein Torso bleiben, nachdem 1739 vom Konsistorium eine Aufführungserlaubnis nicht erteilt wurde. Dies alles spricht weniger für konkurrierende Fassungen, sondern vor allem für die Widrigkeiten, die die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge bereitgehalten haben.

 

Die „eine“ Johannespassion gibt es nicht

Mehr denn je streben Menschen nach unumstößlichen und zutreffenden Standpunkten, je geringer sie unserer Zeit augenscheinlich zu erkennen sind. Diesem Streben scheint ein innerer Drang zugrunde zu liegen. Das Prozessuale, also das geschichtlich Gewordene verliert angesichts dieses Strebens seine Relevanz, wird allzu leicht vernachlässigt, preis- und aufgegeben. Das Eine, das Letztgültige, Sicherheit Verleihende muss errungen, muss erkannt werden. Alles Gewordene sinkt dann herab zu Stadien von Vorstufen, der Übung, des Unvollendeten und des Ausprobierens bis endlich das vollkommene Ganze zum Vorschein treten muss. 

Es hat aber mit dem Wirklichen nur sehr wenig zu tun und gibt dagegen mehr Auskunft über unsere innere Verfassung. Erkenntnisprozesse gehen oftmals mit Phasen der Desorien-tierung und Verunsicherung Teil des Erkennens an sich sind. So erging es letztlich auch den Herausgebern der Bachschen Johannespassion im Rahmen der Neuen Gesamtausgabe nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Vorstellung des Nicht-fertig-geworden-seins wollte dazu nicht einfach passen. Und man entschied sich für ein Konstrukt, das bis dahin nie erklungen war: eine (Ver-)Mischung aus der ersten und vierten, die sogenannte „traditionelle“ Fassung erkor man zum „Letztgültigen“.  Mit der Sachlage hat es aus heutiger Sicht nur wenig zu tun, müsste man es heute doch als einen Akt der Verzweiflung deuten.

 

Zeugt die Frage des Pontius Pilatus, was denn Wahrheit sei, nicht auch von einer solchen, wenn auch vergeblichen Suche der Menschen nach dem einem Grund, der nicht nur alles erklärt, sondern Haltung verleiht und Richtung vorgibt? Möglich, dass der Evangelist sie einem (konstruierten?) sarkastischen Charakter Pilatus in den Mund gelegt hat, in dessen Meinen nichts mehr für wahr und gültig angesehen werden konnte, außer womöglich in der Macht des Augenblicks, die in den Status des Absoluten erhoben wurde. Die Worte Jesu klingen nach: „Du hättest keine Macht … wäre sie dir nicht von oben herab gegeben.“

 

Auch Johann Sebastian Bach artikuliert mit der Anbringung des Gotteslobes, dem SOLI DEO GLORIA, an jedem seiner Werke, sicherlich dieses Streben nach einem ewig Gültigen; bei ihm Ausdruck eines unverrückbaren Glaubens. Umso erstaunlicher wirkt auf den heutigen Menschen der fortwährende, nicht enden wollende Arbeitsaufwand an dem musikalischen Passionstext nach Johannes. 

 

Es mutet dem etwas Bekenntnishaftes an. Die Besonderheiten und visionären Perspektiven des Johannesevangeliums und die darin gründenden musikalischen Möglichkeiten haben Bach augenscheinlich nicht losgelassen. Teile der Komposition entstammen vermutlich schon der aristokratischen „privaten“ und gutdotierten Aufführung einer oratorischen Passion im Jahre 1717 auf Schloss Friedenstein bei Gotha. Das Aufführungsmaterial ist nicht mehr vorhanden. Vielleicht zog Bach, mit diesem Erstling im Gepäck, schon mit der Absicht in Leipzig ein, um es, eingebaut in seine umfangreichen Zykluspläne der folgenden, dort zu platzieren. Und so kam es.

 

Mindestens vier Aufführungen des Werkes in unterschiedlichen Fassungen sind in Leipzig dokumentiert: 1724, 1725, 1732, 1749/50 (1739 unvollendet). Nicht auszuschließen sind weitere Aufführungen. Diese sind zugleich Ausdruck stark divergierender Fassungen, so sehr, dass sie zu einem gänzlich anderen Erscheinungsbild der jeweiligen Passionsmusik geführt haben. 

 

Aber zeugt denn das überhaupt von dem Bestreben nach einem homogenen verbindlichen „Kunstwerk“, das sich womöglich am Ende eines langen Entwicklungsprozesses als der Schlusspunkt einer erfolgreichen Versuchsreihe herausbildet, und von da an für alle Zeiten verbindlich bleibt? Es ist dies ein sich erst im 19. Jahrhundert gründendes Denken, das bis weit in das 20. Jahrhundert vorherrschte.

 

Die stark in der romantisch geprägten Ästhetik gründende Sicht hatte ihre Wurzel in der Vorstellung, dass das Kunstwerk autonom sei. Ein wichtiger Vorreiter hierfür war Robert Schumann (1810–1856), der sich intensiv mit der Wiederaufführung der Bachschen Johannespassion beschäftigte und auch (s)eine „romantische“ Bearbeitung vorlegte. Er wollte, hierin ganz Kind seiner Zeit, die Johannespassion nicht mehr ausschließlich als geistliches Werk verstanden wissen, sondern in den Kanon der weltlichen Orchester- und Konzertliteratur aufgenommen wissen, es letztlich zu einem nationalen kulturellen Erbe erheben. Zugleich bezog er sich durch sein Bemühen indirekt auf die „Wiederentdeckung“ der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) im Jahre 1829, gegen die er sich nicht zuletzt auch künstlerisch abzusetzen versuchte. Die zeitgeistigen Verwicklungen hatten im 19. Jahrhundert den Blick auf die Bedingungen und Motivationslagen Johann Sebastian Bachs verstellt: „ … sie ist um vieles kühner, gewaltiger, poetischer als die nach Matthäus. Diese scheint mir nicht frei von Breiten und über das Maß lang - die andere dagegen wie gedrängt, wie durchaus genial, und von welcher Kunst!“ In dieser Weise ist letztlich auch noch die sogenannte „Mischfassung“ gedeutet worden und als Aufführungsstandard in der Neuen Bach-Ausgabe festgelegt worden. 

 

Allerdings muss es zu denken geben, dass die Fassungen IV und I sehr verwandt sind, es also im Verlauf von fast dreißig Jahren bei Bach selbst zu einem kompositionsgeschichtlichen Zirkelschluss gekommen zu sein scheint. Mitnichten lässt die Betrachtung einen Fortschrittsgedanken zu. Es liegt nahe, vom Anspruch des Charakters eines „autonomen Kunstwerkes“ Abstand zu nehmen. Auch die für Bach typischen Anpassungen an wechselnde, praxisrelevante Aufführungsbedingungen erscheinen hier nicht ausschlaggebend gewesen zu sein, sind doch die Fassungen hinsichtlich des erforderlichen Apparates weitgehend identisch. Ästhetische Entwicklungen und Diskussionen eines imaginären Werkbegriffs scheiden also aus. 

 

Was bleibt? Dürfen die Beweggründe für die sich wandelnde Gestalt von Johann Sebastian Bachs Johannes-Musik also zunächst im geistesgeschichtlichen und theologisch-dogmatischen Kontext vermutet werden? 

In dieser Perspektive erscheint alles viel glaubhafter. Bach hatte bei Dienstantritt 1724 begonnen, ein theologisch-musikalisches Programm umzusetzen, in welchem die Vermittlung des Chorals in seiner praktischen Ausübung und seiner konstitutiven Bedeutung an vorderster Stelle stand. Es war ein Werben dafür, von dieser Kultur des lutherischen Liedes nicht abzulassen. Denn das evangelische Lied lutherischer Prägung hatte im Gottesdienst selbst lutherisch-orthodoxer Prägung schon ab der Jahrhundertwende um 1700 deutlich an Bedeutung eingebüßt. Hier setzt Bachs Bemühen offensichtlich offensiv an. Diese Ein-schätzung trägt sicherlich mit dazu bei, dass heute allgemein von der Absicht einer Choralpassion für den Karfreitag 1725 in der Leipziger Thomaskirche ausgegangen wird, die hinsichtlich dieser Zielsetzung also keineswegs eine Verlegenheitslösung war.

 

Da ist es auch von großer Bedeutung, dass die Aufführung der Passion am 17.03.1739 seitens des Rates der Stadt (sic!) untersagt wurde. Nicht das Konsistorium, sondern das weltliche Regiment handelte hier: Lagen Versäumnisse seitens des Kantors vor, schämte man sich der (altmodischen) Art der musikalischen Umsetzung, war das Verbot gar Bestandteil eines umfassenden Zerwürfnisses, gar die Vorstufe eines Entfernungsversuches? Nichts davon kann ausgeschlossen werden! 

 

Auch und gerade diese Querelen um die Johannespassion Johann Sebastian Bachs scheinen also das gegenseitige Nicht-gewogen-Sein zu dokumentieren. Über diese Aspekte hinaus belegt der in diesem zeitlichen Umfeld liegende Abbruch einer begonnenen Reinschrift der Partitur (der Fassung III), dass eine letztgültige Version über einen konkreten Aufführungsanlass hinaus seitens Bachs gar nicht angestrebt war, anders als im Falle der Matthäuspassion. Weshalb wäre es ansonsten zu einem Abbruch der Reinschrift gekommen? War ihm womöglich klar geworden, dass die Vertonung des Johannesstoffes in dieser Zeit (1730er Jahre) immer zweifelhafter werden sollte und ein Festhalten daran an sich eine gewisse Widerständigkeit (wie in manch anderen Belangen auch) verkörpern sollte? Erst 1736 hatte er der Matthäuspassion eine (im Gegensatz zur Johannespassion) abschließende, dann unverändert gebliebene Gestalt gegeben. (Diese sollte augenscheinlich „auf ewig“ gültig sein! Es ist dies eine der prachtvollen Handschriften des Thomaskantors überhaupt.) Haben denn hier aufgrund einer anders gearteten Textgrundlage die Dinge anders gelegen?

 

In der Fassung II der Johannespassion von 1725 erweist sich Bach als ein Katechet und Seelsorger seiner Hörergemeinde, während in der Fassung I, vor allem aber in der Fassung IV, der Vertreter einer repräsentativen Kirchen- und Staatsmusik („… verherrlicht worden bist …“) spricht, die Stimme eines dem Souverän verpflichteten Sächsischen Hofcompositeurs? (Auch unter diesem Aspekt gesehen ist die in der Neuen Bach-Ausgabe standardisierte „Misch-Form“ wenig hilfreich, differenziert in die Tiefe dieses Werkes vorzudringen.) 

Im Frühjahr 1725 brach das Jahresprojekt eines geschlossenen Choralkantaten-Jahrgangs dann abrupt ab. Stand der Librettist plötzlich nicht mehr zur Verfügung? Bach komplettierte die fehlenden Kantaten durch Rückgriffe auf Werke vergangener Jahre, die zu den anstehenden Sonntagen passten. Sollte ursprünglich die Fassung II der krönende Abschluss des Projektes eines Jahrgangs voller Choralbezüge sein? In der Gestalt einer Choralpassion, basierend auf dem Text des Johannesevangeliums? Der Eingangschor „O Mensch, bewein …“ könnte ein Relikt hierzu sein.

 

Am Karfreitag 1725 kehrte Bach die Perspektivität vollkommen um. Die kennzeichnende statische Dimension der Verwunderung, des Staunens und der Anbetung der Fassung I des Jahres 1724 ist verschwunden: Nicht das Ergriffenwerden von der Enthobenheit der schmerzverzerrten Gestalt des Gekreuzigten im „Herr, unser Herrscher“ des Vorjahres, sondern „O Mensch, bewein …“ konkretisiert nunmehr die Ursache aller Dinge im Umfeld der Passion Jesu. In den dreiundzwanzig Strophen dieses Liedes dichtete Sebald Heyden (1499–1561), Zeitgenosse Martin Luthers und Nürnberger Rektor und Kantor (sic!) an St. Sebaldus, die Passion Jesu nach. Zugleich bezog er den Adressaten durch die direkte Ansprache in der ersten Strophe „O Mensch …“ mit ein. 

Was für ein Beginn eines zweistündigen Werkes am nachmittäglichen Karfreitag 1725 ist dies! Es ist ein ultimativer Imperativ zu Beginn dieser oratorischen Passion, dessen Befolgung unabdingbar war. Es bedrängt den Hörer! Das lapidar wirkende „O …“ zeugt von der ergreifenden Tiefe dessen, was hier verhandelt werden soll. So etwas hatte es in der Musikgeschichte noch nicht gegeben, überflügelte es doch die bittende Aufforderung in der später entstandenen Matthäuspassion („Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen!“) bei weitem. Wer also in diese Passionsvertonung vordringen wollte, musste durch dieses „Nadelöhr“, die einzige Möglichkeit, wie durch ein Portal in den Raum des Geschehens einzutreten. 

 

Seinen Rahmen erfährt der geänderte Eingangschor (Exordium) im Aussingen der das Werk abschließenden Danksagung, welche diese Bezeichnung verdient (und nicht eine weitere Bitte - „Ach Herr, lass dein lieb Engelein …“ - die Konkretisierung für das eigene Schicksal anschließt). Der Leipziger Gemeinde war diese Schlussmusik bekannt, entstammte sie doch Bachs Bewerbungskantate Du wahrer Gott und Davids Sohn BWV 23 zum Sonntag Estomihi 1723. Nicht etwa die Herstellung einer Unio mystica – wie in der Thematisierung der Liebe in der Matthäuspassion abzulesen – und auch nicht die Vergewisserung der Unsterblichkeit der eigenen menschlichen Seele als qualitatives Ergebnis der Leidensgeschichte Jesu – wie in der Erst- und Viertfassung der Johannespassion – bilden den Rahmen. 

 

Der Rahmen

Schon der Imperativ des Textbeginns im Eingangschor spricht von der Konzentration auf die Aspekte der Soteriologie (vgl. Erlösung des Menschen im christlichen Kontext). Es ist die Aufforderung zu einer bußfertigen Haltung, eine erhoffte Erkenntnis des Sündenkomplexes und die finale anbetende Haltung im Schlusschoral, die den Rahmen des ganzen Oratoriums bilden. 

 

Durch eine liturgisch anmutende Anrufung des Gotteslammes wird schließlich der Eindruck erweckt, als käme der Johannespassion der Fassung II insgesamt eine gottesdienstliche Qualität zu. Der Schlusschor wächst allerdings dann aus seiner Rahmenfunktion heraus und wird zum inhaltlichen und liturgischen Höhepunkt dieses imaginären Gottesdienstes, zum Agnus Dei im Heiligen Abendmahl. Denn Gebet, Zuspruch (Lesung), Lied, Vergewisserung (Predigt) und Abendmahl waren die unverrückbaren Kennzeichen eines jeden christlichen Gottesdienstes. Diese Fassung II tritt so mit einer konkreten Erwartungshaltung an den Hörer heran. Die voraussetzende Adressierung lautet: Habt Anteil daran! Erkennt euch in den agierenden ambivalenten Figuren um das Kreuz wieder! Gewinnt Freiheit vor dem Gnadenthron! Die Überschrift der Fassung II könnte im geistlichen Sinne Teilhabe lauten – an Erlösung und Gottesgemeinschaft. 

 

Das alles hat fast nichts mehr mit einer bloßen Berichterstattung der Passionsgeschichte zu tun. Die Ereignisschilderung dient der Unterweisung in den Sinnzusammenhängen. Die katechetische Aussage rückt an den Anfang des Werkes; „so ist es und es wird dir gezeigt werden, o Mensch, wo es herrührt“. Der Hörer wird auf den folgenden Bericht eingestimmt, vorbereitet, aufgeschlossen, in den Stand der Aufnahmefähigkeit gesetzt. Der Thomaskantor wird hier so konkret wie sonst nie zum Prediger, einer Kompetenz, die man ihm im Leipzig der Umbruchzeit im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts gewiss nicht zuzugestehen bereit war.  Überraschenderweise ist es nicht die Zerknirschung des Sünders, die hier musikalisch zutage tritt. Die Textur ist zwar von der Sequenz einer nicht enden wollenden (könnenden) „Seufzerkette“, den „Klage- und Beweinungsfiguren“ (von Fischer, 106) bestimmt. Unverhoffter Weise atmet das Ganze aber Leichtigkeit und Tanzhaftigkeit, das Leid wirkt wie gebannt und eingebettet in der Freude und Dankbarkeit über die Anschauung der Qualität der zu beschreibenden Ereignisse. Es ist Ausdruck der „fröhlichen Buße“, von der Martin Luther spricht. Nicht Entsetzen, sondern erleichterte Dankbarkeit steht im Vordergrund. Bei Bach ist dieser Affekt stets an den Tanz gekoppelt.

 

Die Musik entfaltet um die Choralstrophengliederung herum eine konzertante Gestalt, die von Dialogen und wohlmeinenden Anschlüssen geprägt ist. Man meint, Aufrichtung und Erbauung zu verspüren. Die klangliche Erscheinung liegt auf der Bewegung und dem Energetischen und nicht im Singen. 

 

Die Ebene des Singens, also der eigentlichen Choralrezitation, ist der musikalische Ort des Leides. Er wird von der Freude umgarnt, verwoben. Deshalb ist der zentrale Affekt des ganzen Satzbildes als vorwiegend heiter und positiv zu bezeichnen; bestens geeignet, um die Einladung zur „fröhlichen Buße“ Ausdruck zu verleihen. Auch die Wahl der heiteren, von Freude und Erleichterung geprägten Tonart Es-Dur spricht dafür. So mag man diesen Eingangschor als die qualitative Krönung und eine theologische Überhöhung des als Ganzes konzipierten Choralkantatenjahrgangs 1724/25 verstehen.

 

Die Gegenüberstellung der zentralen Begriffe aus den beiden Eingangschören der Fassungen I und II zeigt an, wie unterschiedlich die theologischen Zielrichtungen in diesen Werkvarianten sind. Und zugleich erklärt es eine Wiederaufführung einer Johannespassion schon nach einem Jahr. Durch die tiefen Veränderungen ist ein anderes, ein neues Werk entstanden:

Fassung I (1724, St. Nicolai): Herrscher – „in allen Landen“ - Verherrlichung – Niedrigkeit

Fassung II (1725, St. Thomas): Mensch – Sünde – Krankheit - Opfer – Kreuz – Tod – Leben 

 

Die Mitte

Wollte Bach für die Vielfalt der theologischen Aspekte „seines“ Johannesevangeliums werben? 

Die Abweichungen gegenüber der gängigen Fassung sind deutlich: Der Austausch von drei Arien gegenüber der ersten Fassung wirkt auf den ersten Blick belanglos. Aber dies hat es in sich. Dramatik pur, eine ungeglättet wirkende Handhabung der Harmonik und die oftmals nicht regelkonforme Intervallführung in den Rezitativen lassen den Zuhörer erschaudern. Ja, er selbst scheint in die Geschichte eingewoben zu sein. 

 

Die ganze Zerrissenheit kommt in der Tenorarie „Zerschmettert mich ihr Felsen und ihr Hügel, wirf Himmel deinen Strahl auf mich!“ zum Ausdruck. Diese Petrusgestalt steht für den Menschen schlechthin und hält uns den Spiegel vor: in sich selbst verstrickt, unerlöst, unerträglich. Diese drastischen Eigenschaften, eingefangen in einer brutalen Bildsprache, spiegeln sich auch im Aufbau des Stückes wider: Aphoristisch und unvermittelt geraten der erste Teil in einem jagenden Tempo und die Phasen von Lethargie und Apathie aneinander. Entwicklung und eine Aussicht auf (Er-)Lösung scheinen ausgeschlossen. Um wieviel deutlicher und zupackender als die allseits bekannte Petrusarie aus der ersten Fassung „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken“ wird uns dieses Psychodrama vor Augen und Ohren gestellt! All dies kreist in hochdramatischer innerer Erregung um das Thema der Verleugnung des Petrus, dem eigentlichen Kern der Fassung II. Bach gelingt die Darstellung des Erschreckens über sich selbst in bedrückender Weise. Das Geschilderte ist einfach nur unerträglich und schamvoll. 

 

Das Deckblatt der heutigen Aufführung ziert nicht das Antlitz des gemarterten und gekreuzigten Jesus. Es ist die Darstellung der Verleugnungsszene des Petrus: „Ich kenne den Menschen nicht.“ In der Fassung II ist nicht mehr die Verneigung und Verherrlichung des Gottessohnes das zentrale Thema. Hier ist das Verstricktsein des Menschen in die Geschehnisse auf dem Kreuzweg Jesu das Thema. Menschen machen sich an diesem Schicksal des Gottessohnes schuldig, in ganz unterschiedlichen Situationen, plötzlich oder von langer Hand sich anbahnend. Alles bricht sich in ihrer Position auf dem Weg Jesu ans Kreuz. Es ist eines der Dramen dieser Passion. Es gibt kein Entrinnen, kein Weglaufen. Versäumnis und Schuld treten zwischen sie und ihn, zwischen uns und ihn. Bach zieht in diesem Nicht-Entkommen-können eine Verbindung zur Kategorie der „Adamsschuld“. Der Mensch ist in unausweichliche Komplexe hineingestellt, hineingeboren. Erst in dieser Perspektive wird deutlich, dass es weder von den Text- als auch für den Musikautoren keine qualitative Abstufung zwischen dem „Kreuzige“-Ruf der Menge oder dem Versäumnis des Einzelnen gibt. 

 

So wird insbesondere in der Fassung II klar, wie wenig dem Antijudaismus in der Musik das Wort geredet wird und wie sehr sich alle (!) Menschen im Schuldturm der Passion Jesu zusammenfinden: Petrus, die Ankläger, die Rufer, die Spötter, die Richter, die Aufhänger, die Geflohenen, die Mächtigen und – wir.

 

Bach schlägt, 1725 mehr noch als 1724, den Bogen zum Menschen seiner und unserer Gegenwart. Er konkretisiert. Er legt der die Passion Jesu betrachtenden Seele drei besondere Arien in den Mund, die den Bericht aus der Ferne, aus dem Ritual in die Lebens- und Glaubenswirklichkeit heute hinein- und zurückholen. Es ist die reflektierende Ebene, in welcher der Hörer sich der Versenkung anheimgibt. 

 

Meditative Versenkung als Mittel von Erkenntnis und der angestrebten Gottesnähe musste in der Zeit der Leipziger Frühaufklärung den in die Zukunft Blickenden sicherlich befremdlich und rückständig wirken. Bach wird sich dieses Umstandes bewusst gewesen sein. Und er erwartet viel von seinen Zuhörern. Womöglich wurde diese Fassung als ein Anwurf gegen die Leipziger Gottesdienstgemeinde verstanden, welcher der Thomaskantor am Karfreitag 1725 eine katechetische Übung verabreichte? War das Maß der Mystik nicht zu ertragen? Eine Hörergemeinde, die im voraufklärerischen Leipzig immer mehr zum Publikum werden sollte, war solchen Belehrungen gegenüber sicherlich nicht mehr aufgeschlossen, als dies der stets auf seine Amtsfunktion reklamierende Thomaskantor wahrhaben wollte.  Bach hielt daran fest: Nicht die Nachahmung Jesu, sondern die Erkenntnis der „Petrushaftigkeit“ des Menschen lässt diesen am Schluss in das „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd‘ der Welt, erbarm’dich unser, gib uns deinen Frieden!“ Die Verneigung vor dem Gekreuzigten ist das Ergebnis des oratorischen Prozesses insgesamt und nicht die Eingangsvoraussetzung („Herr, unser Herrscher“), wie in der ersten Fassung. So sind es also ganz unterschiedliche Werke.

 

In der musikalisch bedrängenden, ja verstörenden Darstellung einer Naturkatastrophe (Blitze, Erdbeben), und das ist für Bach typisch, kündigt sich das Wanken einer Weltenordnung in Tönen an. Diese Gefühlsausbrüche sind in ihrer musikalischen Präsenz heute noch beängstigend. Das ist keine „schöne“ Musik! Wie mag es 1725 in der Thomaskirche gewirkt haben? Ungestüm und hoch bizarr bricht sich die musikalische Gestalt Bahn, selbst vor der Hässlichkeit in der Tonartikulation (technisch gar nicht anders ausführbar) nicht zurückschreckend. Elementare Musizierhaltung, gesteigerte Bewegungs- und Gesangssituationen, die bis in die Grenzregionen vorstoßen, sind da Bachs adäquate Gestaltungsmittel. Die Musik hat nichts Erbauliches mehr, sie wühlt auf und nimmt dem Menschen die Ruhe, gönnt ihm keinen Rückzug. Der Hörer findet sich bei aller Reflexionsqualität der Bachschen Kunst und ihrer Psychodramatik dann unversehens in der Position des Petrus wieder. Wir selbst werden zum Petrus. Wollte man das hören und ertragen? Will man dies heute? Der innere Zusammenbruch des Petrus, das dramaturgische Zentrum dieser Passionsschilderung von 1725, geht einher mit dem Obwalten Christi in dessen Not und Tod. Hier tritt der Choral „Christus, der uns selig macht“ mit seiner heilsamen Kraft und Aussage endlich ein: Johann Sebastian Bach zeigt, wie das Scheitern des Petrus unmittelbar in Christus aufgehoben, geborgen ist. 

 

Diese Fassung II ist eine Momentaufnahme, ein Unikat, das auf das Jahr 1725 begrenzt geblieben zu sein scheint. Aber hier sind wir dem eigentlichen Anliegen Johann Sebastian Bachs sicherlich ganz nah. Die Frage nach der Begründung dieser Einzelstellung hat nicht mit einer minderen Authentizität dieser Musik oder gar einem qualitativen Mangel gegenüber den anderen Fassungen zu tun. Aber vielleicht lag es dann in den weiteren Jahren auch nicht mehr in der Macht des Komponisten. Die Antwort bleibt uns Bach schuldig – für ewig.

    

Dr. Matthias Lotzmann, 2022