Gedanken zur Matthäus-Passion

Einführungstext zur Auffühhrung am 17.3.2024

von Dr. Matthias Lotzmann 

Anmerkung: Die Fußnoten dieses Textes werden in dieser Online-Version aufgrund von Darstellungsproblemen nicht aufgeführt. Schauen Sie dazu bitte in die Printversion des Programm der Barmer Bach-Tage 2024

Selbstredend ist es an dieser Stelle unmöglich, die Komplexität des ganzen Werkes aufzuzeigen oder auch nur anzureißen. Aus diesem Grunde möchte ich etwas von dem benennen, was mich bei der Einstudierung und Interpretation dieses theologisch-musikalischen Kosmos hat leiten lassen. Literaturempfehlungen folgen im Anschluss.

 

Kaum ein anderes oratorisches Werk ist in seiner heutigen Präsenz so sehr von den Grundsätzen der historischen Aufführungspraxis geprägt wie die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. In zahlreichen Einspielungen der letzten zwanzig Jahre sind Referenzaufnahmen von zum Teil erheblichen interpretatorischen Unterschieden entstanden, deren Protagonisten sich allesamt auf die Erfordernisse einer rekonstruktiven Zielsetzung in der Aufführung dieses großen Werkes verpflichtet sahen und sehen: Nikolaus Harnoncourt, Frans Brüggen, Neville Marriner, John Eliot Gardiner, Philippe Herreweghe, René Jacobs, Hans-Christoph Rademann etc. Diese namhaften Interpreten Bachscher Musik haben in den vergangenen fünfzig Jahren den Geschmack des Hörerpublikums geprägt. Die aufnahmetechnisch und klanglich perfekten Tonkonserven haben Maßstäbe gesetzt und haben auch Erwartungen hinischtlich realer Konzertdarbietungen geweckt. Sie sind längst über den Status von Dokumentationen hinausgewachsen, sind selbst zu einer eigenen Kunst-Gattung geworden. Die Aufführungen in Stadt und Land haben sich seitdem daran zu messen. Das aber ist in vielerlei Hinsicht unmöglich. 

 

Eine andere Auswirkung dieser Entwicklung ist, dass die ehemals traditionellen kirchlich verankerten Kantoreien, die zuvor mit ihren zahlreichen Sängern für die Verbreitung Bachscher Werke standen, in der Breite aufgehört haben, die Passionen Bachs aufzuführen. Neue Erkenntnisse, ein neues Verständnis der Bach in Leipzig zur Verfügung stehenden Vokalensembles taten hierzu ein Übriges. Auch haben sich die allgemeinen Fähigkeiten, die mentalen und musikalischen Herausforderungen mit der Aufführung solcher Werke zu bewältigen, welche die Aufführung eines solchen Werkes mit sich bringt, in der Breite stark verändert.

Was tun? Soll man die Aufführung den Spezialensembles überlassen? Oder gibt es andere Lösungsangebote?

Die erste Wiederaufführung des Werkes nach dem Ableben Johann Sebastian Bachs durch Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) geschah nicht in einer Kirche, sondern in einem akademischen Konzertsaal, nämlich im Saal der Berliner Singakademie im Jahre 1829, dem Jahr des hundertsten Jubiläums der mutmaßlichen Erstaufführung durch Johann Sebastian Bach in Leipzig. Mendelssohn Bartholdy kürzte das Werk um die Hälfte. Diese „Verunstaltung“ hatte zeitästhetische Gründe. Auch gab es kaum einen inhaltlichen Zugang zum Werk: Gravierende Eingriffe in Partitur, eine der Romantik geschuldete Uminstrumentierung, die Anpassung des Klangbildes und ein gewaltiger Chor von 150 Sängern entsprach eher einer verklärten Sicht auf den in der Zwischenzeit mystifizierten Thomaskantoren Bach. In ihrer Wirkung einschüchternde Klangmassen und eine überwältigende Stimmgewalt dienten einer beabsichtigten Ikonografie Bachs. 

 

Man strebte in der Zeit nach den napoleonischen Befreiungskriegen, in denen man auch kirchlich, kulturell und personell nach einer nationalen Autonomie in Deutschland, das als einziges in Europa keinen Raum ohne National-Staat darstellte. Auch die Gestalt BACH wurde in diesen nationalen Dienst genommen und auf Denkmäler gestellt, insbesondere durch die Stiftung eines solchen durch Mendelssohn Bartholdy 1843 in Leipzig selbst dokumentiert. Für den romantischen Gewandhaus-Kapellmeister war die Matthäuspassion, deren autographische Partitur sein Konfirmationsgeschenk war, ein Schlüsselwerk in der Auseinandersetzung mit Johann Sebastian Bach und der vorrevolutionären Musik in der Alten Zeit insgesamt. Gerade dieses Werk und der Name BACH als solcher wurden zum Synomym und hatten aufführungspraktisch und rezeptionsgeschichtlich bis in das 20. Jahrhundert kaum eine in die Tiefe gehende theologische Konnotation. Aufführungen der Matthäuspassion durch Ferruccio Busoni 1921 und eine erste Verfilmung durch Ernst Marischka 1949 belegen dies. So ist das Werk bis heute eher ein bürgerliches öffentliches Allgemeingut geblieben. 

 

DIE BARMER BACH-TAGE 2024 bringen die Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs in einer historisch informierten Interpretation zur Aufführung. Die Mitwirkenden und Zuhörer begegnen sich im Raum der Kirche, einem Ort, für den die Musik bestimmt war. Eine trennende Rampe gibt es hier nicht. Das Ohr des Hörers ist nah am Geschehen. Die Aufführung orientiert sich an der Aufführungsrealität der Zeit Johann Sebastian Bachs. Auch solistische Partien werden teilweise von den Mitgliedern der Kölner Vokalsolisten übernommen. Eine überzeugende Aufführung, die den gesetzten Maßstäben entspricht, möchte nicht nur ein konzertantes Erlebnis sein, sondern möchte die gewogene Hörerschaft vor allem mit den Perspektiven Bachs auf den Bericht des Matthäusevangeliums vertraut machen: einer von einer tiefen Frömmigkeit geprägten Dramaturgie. Soli Deo Gloria. In diesem Sinne möchte diese Aufführung religiöser Anstoß sein und dem Geheimnis der Passion Jesu in der Sichtweise Johann Sebastian Bachs Raum geben.

 

Die beiden auf uns gekommenen oratorischen Passionen Johann Sebastian Bachs könnten entsprechend der 

Verschiedenartigkeit der biblischen und poetischen Textgrundlagen hinsichtlich ihrer dramaturgischen Gestalt unterschiedlicher nicht sein. Auch die Schaffensvorgänge durch Bach unterschieden sich stark voneinander. Die nie „fertig“ gewordene Johannespassion in ihren mindestens vier Fassungen zerrt und rüttelt in ihrer zerklüfteten Dramatik und der aufwühlenden Gewalt am Gemüt des Hörers. 

 

Hingegen tritt uns die andere „starcke Passion“ 1, die Matthäuspassion als ein abgeschlossenes homogenes Werk gegenüber 2, welches in einer der schönsten Reinschriften von eigener Hand der Musikgeschichte, von Johann Sebastian Bachs eigener Hand, vor uns steht. Diese stammt aus dem Jahr 1736, dem Zeitraum einer Wiederaufführung. Wann das Werk aus der Taufe gehoben wurde, 1727 oder 1729, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. 

 

Unabhängig davon ist es eigenartig, dass die Vertonung des Passionsberichtes Matthäus einer kompakten Schaffensphase erwuchs. Es existiert lediglich diese eine Fassung des Werkes. Die Abweichungen in den Aufführungen der verschiedenen Jahre sind als marginal zu bezeichnen.

 

Was bislang kaum Beachtung fand, aber für den Gesamtkontext der Matthäuspassion entscheidend ist: In perspektivischer Hinsicht unterscheidet sich schon sich die Konzeption der Matthäuspassion insgesamt grundsätzlich von der Johannespassion. Denn sind die Varianten der Eingangschöre der Johannespassion Adressierungen der Hörergemeinde („Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name“; Psalm 8) bzw. Ermahnung derselben („O Mensch, bewein dein‘ Sünde groß“, Sebald Heyden, 1530). Der Eingangschor der Matthäuspassion initiiert einen anderen Fortgang, wie aus den Worten des folgenden Rezitativs (Nr. 2) zu erkennen ist: „Da Jesus diese Rede vollendet hatte …“. Der Chor „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen“ wird, als eine gedichtete Rede, aus Jesus selbst in den Mund gelegt. 

 

Wer sind diese Töchter? Es hat den Anschein, als seien hier die „Klageweiber“ angesprochen, die ritualisiert den Tod von Menschen betrauern. Jesus ruft diese am Vorabend seines Todes auf. Bach wiederum wendet diesen Topos auf die Hörer- und Glaubensgemeinde seiner Zeit an. 

 

Dabei wird poetisch-musikalisch auf die im Matthäusevangelium dem Passionsbericht vorgelagerte Passage Bezug genommen3: „Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.“ 

 

Christus, dieser Weltenrichter, wird selbst zum Angeklagten und Verurteilten. 

„…sehet ihn aus Lieb‘ und Huld sein Kreuz selber tragen “

 

Die Wucht des hier skizzierten Weltgerichtes 4 mündet in die Erzählung des Leidens Jesu und so abgefedert. Die drohende Gerichtsperspektive, die damit womöglich zu erwartende Anklage und Verdammnis ist der Ausgangspunkt für die Passionserzählung. Bach identifiziert die Position des Eingangschores seiner Matthäuspassion mit diesem bedrückenden Bild. Und es ist erfüllt von Unwägbarkeit, Beklemmung, einem irreversiblen Richtspruch. 

 

Wer kann da bestehen? Der Klagegesang „Kommt ihr Töchter …“ des Eingangschores nimmt dies auf und formt in um. Die durch die eingeführten Fragepronomen und wechselchörig zugerufenen Einwürfe Wen? Wie? Was? Wohin? wollen schon im Verlauf der „Ouvertüre“ trösten, lindern, unterweisen und ausrichten. Die Ausgangsbeschreibung der vorgelagerten biblischen Szene und der dadurch hervorgerufene Schmerz erscheint schon aufgehoben, bevor die Leidens- und Sterbegeschichte Jesu ihren Lauf nimmt. Welch ein bergendes und fürsorgliches Handeln! Vor dem Beginn des Todeskampfes ist der Hörer somit über den Sinn des Geschehens im Bilde, ist den Gläubigen eine greifbare Erinnerungsmarke gegeben. 

 

Diese Passionsmusik will nicht um einer ästhetischen Wirkung willen in emotionelle Erregung versetzen, sondern Verstehen erwecken. Im Ergebnis wird so in der Passion Jesu eine für den Menschen lebbare Lösung herbeigeführt, die letztlich froh macht. Das ganze Szenario wiederum wird aber erst durch die vorgeschaltete Gerichtsperspektive verständlich. Schon diese weitausgreifende Maßnahme des Komponisten eröffnet den neuen Bedeutungsraum der Matthäuspassion: Nicht der auf dem Gnadenthron residierende Christus, sondern der stellvertretende Liebestod Jesu ist die Mitte dieser Passion: „Kommt und seht“, wie „aus Liebe“ „mein Heiland“ sterben will. So ist schon der Eingangschor von Trost und erhellendem Begreifen geprägt: 

Die Wiederaufnahme des „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ am Ende wie ein gigantisches kathedralisches Portal wirkenden Satzes ist etwas anderes als eine Wiederholung der Worte vom Beginn. Es ist durch erklungenen Mittelteil von tiefem Verstehen geprägt. Das nominelle Klagen ist dem bejahenden Aufforderungscharakter gewichen, und der Bereitschaft, den Kreuzweg Jesu in frommer Leidenschaft mitzugehen, an den Segnungen Anteil zu haben, die von seinem Weg und Tod für uns ausgehen.

 

In dieser weltgerichtlichen Perspektive kommt den Ereignissen, die mit der Passion verbunden sind, also die paradigmatische Qualität einer weltgerichtlichen Entscheidung zu. Es ist nicht die Inthronisierung des Regenten am Kreuz, nicht das für den Menschen Rechtfertigung schaffende Leiden Jesu, sondern die (welten-) richterliche Vollmacht und Gewalt, die von dem Sterben des Gottessohnes 5 ausgeht. Das Sterben Jesu wird hier ganz zum „Liebestod“, der die ultimativen Gesetze von Rettung und Verdammnis außer Kraft setzen will, indem der Sterbende selbst alles auf sich nimmt. Und dies geschieht wahrlich nicht, ohne dass die Grundfesten der Erde erschüttert werden und die Elemente sich verkehren. 

 

Die Verwunderung darüber, wie sie sich in den Worten des Hauptmannes unter dem Kreuz Bahn bricht („Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“), ist als einer der relevanten Höhepunkte des Werkes zu verstehen. Denn die persönliche Rede dieses einen wird chorisch vorgetragen. Der historische Zeuge und der präsentische Chor der Gläubigen rücken somit zueinander. Die Zeugenschaft wird so transformiert in das Hier und Heute übertragen, ein wunderbarer dramaturgischer Akt des vollmächtigen Komponisten. 

 

Johann Sebastian erweist sich hier als raffinierter Dramaturg. Theologisch allerdings bezieht er deutlich gegen die relativierenden Tendenzen der Zeit Stellung. Sollte in der Raffinesse der musikalischen Anlage die Spuren einer theologisch konservativen Standortbestimmung verwischt werden? Manches spricht dafür. Die musikalische Gestalt des Werkes, der eine gewisse Nähe zur italienischen Oper der Zeit nicht abgesprochen werden kann, könnte sich von den bedeutenden gehaltlichen Aspekten einer lutherisch-orthodoxen Position abgehoben haben.

 

Die Kirchengeschichtlerin und Systematikerin Elke Axmacher (1942-2021) zeigt die irreversiblen Bruchstellen auf, die ihren Ausgangspunkt letztlich vom Passionsverständnis nehmen, wenn sie schreibt: „Der theologisch entscheidende Vorgang, der den Wandel des Passionsverständnisses um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert bewirkt, ist die allmähliche Auflösung der (vom Protestantismus modifiziert übernommenen) anselmischen Versöhnungslehre. 6 […] Grundlegend für das lutherische Passionsverständnis ist der Gedanke des Strafleidens Christi: „Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten“ (Jesaja 53,5) ist hier der Grundtext für jede Passionsdeutung. Dabei wird der erste Teil des Satzes im Sinne von Jesaja 53,6 als Folge eines Handelns Gottes verstanden: Christus trägt die Strafe, weil Gott „unser aller Sünde auf ihn warf“ und darum auch die Sündenstrafe an ihm vollziehen muß. Erst die theozentrische Auffassung des Strafleidensgedankens bedeutet die äußerste Zuspitzung der Paradoxie in der Versöhnungslehre. Es ist darum verständlich, wenn an diesem Punkt auch ihre Auflösung beginnt. Deren erstes Kennzeichen ist die christologische Akzentuierung des Gedankens, d.h. seine Reduzierung auf die Aussage: Christus trägt die Strafe für uns. Damit aber ist bereits die schiefe Ebene betreten, auf der es kein Halten mehr gibt. Die Scheu vor der harten Paradoxie, daß Gott den Unschuldigen nicht nur leiden läßt, sondern straft, um die Schuldigen zu erlösen, führt unvermeidlich zur Eliminierung des Strafgedankens überhaupt aus dem Passionsverständnis. Die Passion ist nicht Strafe, nicht Gericht, sondern sozusagen ‚reines‘ Leiden. Damit aber wird zugleich – faktisch, nicht in ausdrücklicher Bestreitung – die Gottesbezogenheit dieses Leidens schlechthin geleugnet. Gott kann zu Jesu Leiden keine Beziehung der Art mehr haben, daß er es gewollt hat. Christus trägt nun nicht mehr mit der Sünde auch die Sündenstrafe, sondern nur noch die menschliche Sünde.“ 

 

Die Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs verwahrt sich davor, in der Sprache dieses Bildes verbleibend, diese „schiefe Ebene“ zu betreten. Und ein zweites: Das Werk verliert sich nicht im Drama. Es ist die Hörerperspektive, die im gesamten Zyklus seine hervorstechende Bedeutung hat. Das Aufgefangenwerden der kirchlichen Gemeinde schon im Verlauf des Eingangschores erfährt so seine Fortsetzung. 

 

Denn es sind die Choräle, die in der Konzeption der Passion Bachs zu einer exzellenten Kommunikationsebene avancieren: Dramaturgisch und symbolisch: So wie Bach überhaupt dem Chor, konkret den zwölf (!) Chorälen die Gliederungskompetenz des gesamten Werkes überträgt. Die 12 Choräle korrespondieren mit der Anzahl der Jünger Jesu. 

 

In den fünf Großteilen der Passion finden sich die Choralgruppen, die im Binnenverhältnis eines jeden Abschnittes kommentieren, die Frömmigkeit der Jetztzeit ins rechte Verhältnis zu den Schilderungen der Ereignisse setzen. Immer wieder werden die Zeitebenen durchkreuzt, aufgehoben, in Perspektive gesetzt und neu formuliert. Und dies ist ein weiterer wichtiger Unterschied zur Johannespassion. 

 

Das Werk endet nicht in der Klage und Trauer um den Tod Jesu. Vielmehr gewinnen der Tod und die Bestattung Jesu eine relativierende, episodische Dimension. Aus der historisch-präsentischen compassio erwächst am Ende ein historisch-eschatologisches Gedenken -> Forte-Einsatz „Ruhe sanfte“ (Takt 21–22). Der Text zeigt es an: „Höchstvergnügt schlummern da die Augen ein“. Nicht die Eindämmung der Trauer, sondern die Freude darüber, dass der Tod Jesu in den heilsgeschichtlichen Plan Gottes eingebunden ist, dominiert am Ende. Die Geschichte zwischen Gott und den Menschen geht weiter. 

 

Der Bach-Forscher Martin Petzoldt (1946–2015) kommt auf der Grundlage der Bedeutung erst der zwölf Choräle zu einer bedeutungsvollen Gruppierung des gesamten Werkes:

 

Vorbereitung zum Leiden (Nummern 2-17)

(03) Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen 

(10) Ich bin’s, ich sollte büßen 

(15) Erkenne mich, mein Hüter 

(17) Ich will hier bei dir stehen 

 

Actus Hortus (Nummern 18-28)

(25) Was mein Gott will, das gscheh‘ allzeit 

 

Actus Pontifices (Nummern 31-40)

(32) Mir hat die Welt trüglich gericht‘ 

(37) Wer hat dich so geschlagen 

(40) Bin ich gleich von dir gewichen 

 

Actus Pilatus (Nummern 41-54)

(44) Befiehl du deine Wege 

(46) Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe 

(54) O Haupt, voll Blut und Wunden 

 

Actus Crux (Nummern 55-62)

(62) Wenn ich einmal soll scheiden 

 

Actus Sepulchrum (Nummern 63-67)

Ohne Choral (!) 

 

Aus diesem Momentum der Stille, des Schweigens, erwächst das Neue und der Zukunft Zugewandte. Es gibt eine deutliche Perspektivität über die Versiegelung des Grabes hinaus. Das Leben obsiegt. Denn die Botschaft dieser historischen, ins Präsentische geholten Ereignisse ist, dass Frieden herrsche, der Friede Jesu Christi.

Aus dem Gegeneinander der Chöre wird ein Miteinander. Durch die Rahmenbildung von Eingangs- und Schlußchor wird die Symmetrie des Ganzen vollendet. Der Zirkelbogen des Friedens und zukünftigen Lebens ist geschlagen. Unter diesem Bogen herrscht wiederum eine Fülle von Querbezügen und Verweisen, die die konstruktive Kraft Johann Sebastian Bachs zeigen: 

Die Textebenen gliedern sich in drei berichtende, erläuternd-erklärende, und Glauben erweckende Ebenen. Die Folge ist ein hohes inneres Engagement beim Hörer, hinter den der unmittelbare ästhetische Genuss zurücktritt. Erst nachdem die Stationen Meditation, Kontemplation, psychisch-seelische Standortbestimmung beim Hörer, Verinnerlichung, Katechese, Frömmigkeit durchlaufen sind, erschließt sich die Fülle der Musik. Andererseits herrscht im Werk eine klare Zweiteiligkeit, der Einfügung einer ca. einstündigen Predigt (zur damaligen Zeit) Rechnung tragend. 

 

Das heißt, dass der zweite Teil nicht auf den ersten Teil Bezug nimmt, sondern auf das Ergebnis der erfolgten (heute imaginären) Predigt! Die beschriebene Fünfteiligkeit des Werkzyklus bleibt zwar noch erkennbar, wird aber durch die Art der poetischen Dichtung verdeckt. Christian Friedrich Henrici (1700–1764) gliedert seine der Matthäuspassion zugrundeliegende Dichtung in fünfzehn Abschnitte und hebt somit die altkirchliche Teilung in fünf Abschnitte der inneren Passionswallfahrt und der Tradition der „Kreuzwegstationen“ auf. Bach gliedert den Bibeltext in 28 Kleinabschnitte. Durch die kunstvolle Einbringung von Schilderung, Reflektion und Verinnerlich wird die zeitliche Achse de facto aufgehoben und ist nicht mehr relevant. So gerät der epische Charakter zuungunsten des narrativen in den Vordergrund. Die „Gleitenden Übergänge“ in der Musik verstärken dies . Die Instrumentalbegleitung ist äußerst differenziert und erfährt eine große Bedeutung auch in den Rezitativen. 

Diese Form erscheint aufgebrochen – individuelle Lösungen werden für jede Textstelle neu ersonnen. Friedhelm Krummacher spricht von „erweiterten Rezitativen“, die das gesamte Werk (trotz der Nummernhaftigkeit) als ein einziges dynamisches Fließen erscheinen lassen.

 

Es ensteht eine völlig neuartige, gesamtperspektivische Dramaturgie. Die bloße Aufzählung und reihender Schilderung der Ereignisse wird überwunden. Häufig erwecken Stichworte, die sich aus dem Bibeltext oder der poetischen Dichtung (z.B. die Begriffe „büßen“, „Liebe“ etc.) assoziativ erscheinende innere Verbindungen, die das Werk als eine fließende, nicht zu unterbrechende Struktur erscheinen lassen. Nur ein Beispiel: Das Rezitativ Nr. 30 bringt die Worte Jesu „so geschehe dein Wille“. Quasi der Hörer selbst antwortet im folgenden Choral (Nr. 31) mit den Worten: „Was mein Gott will, das gscheh‘ allzeit, sein Will‘, der ist der beste“. Die Musik hat die Nummernhaftigkeit einer „geistlichen Oper“ so ganz hinter sich gelassen. Durchkomponierte Struktur und alle dezidierten Angaben auch in den Rezitativen unterstützend dies und erwecken einen gänzlich kathedralhaften Charakter, den man beim Hören des Werkes erlebt.

 

Dieses Werk Johann Sebastian Bachs hat keinen Vorläufer und bleibt in der Musikgeschichte einzigartig.

 

Literaturempfehlungen

  • Friedhelm Krummacher, Johann Sebastian Bach – Die Kantaten und Passionen, 2 Bände, Bärenreiter/Metzler
  • Reiner Marquard und Meinrad Walter, Johann Sebastian Bach – Matthäus-Passion
  • Emil Platen, Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach, dtv/Bärenreiter
  • Gottfried Scholz, Bachs Passionen, Schott
  • Christoph Wolff, Bachs musikalisches Universum – Die Meisterwerke in neuer Perspektive, Bärenreiter/Metzler