Die „andächtige Musiq“ bei Johann Sebastian Bach

von Dr. Matthias Lotzmann

Unserem Bedürfnis nach Ordnung ist auch die Musik unterworfen. Sie in Kategorien zu bringen, wurzelt im neuzeitlichen wissenschaftlichen Bestreben, dass man auf diesem Wege einer Anschauung vom Wirklichen nahezukommen vermag. Neben den Epochenbegriffen und Stilen sind es vor allem die Funktionen, die man aller Musik zuschreibt. Es ist uns heute selbstverständlich, gerade im deutschsprachigen Raum, von weltlicher und kirchlicher, profaner und geistlicher Musik zu sprechen. Johann Sebastian Bachs musikalischen Verstehen spiegelt sich in diesen Chiffren nicht wider. 

 

Wenngleich er nach 1723 qua Amt dafür zuständig ist, in Leipzig Sonntag für Sonntag eine würdige geistliche Musik in den Hauptkirchen zu realisieren, und vor allem durch sein eigenes Komponieren zu prägen, wird er sich weniger seiner Funktion vergewissert, als vielmehr in jedem Moment seinem eigentlichen Endzweck des Soli Deo Gloria entgegengestrebt haben. Dass er seinem eigenen Amt als auch seiner kompositorischen Kraft Gewaltiges zutraute, belegt u.a. die Eingabe an den Rat der Stadt Leipzig vom 23.8.1730 der „höchstnöthige Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music; nebst einigem unvorgreiflichen Bedencken von dem Verfall derselben“. Bach strebte mit seinen Kantatenjahrgängen eine „Vertonung“ des christlichen Kirchenjahres samt textexegetischer Dimension der Perikope an. Letzteres kam wegen unvorhergesehener personeller Schwierigkeiten (Tod des Librettisten?) 1725 nicht zum Abschluss. Und auch die berühmte Eingabe an den Rat zeugt davon, dass Bach stets das Ganze dachte und zu umfassenden systemischen Reflexionen neigte. 

 

Die Music wird in der Eingabe mit dem Ort ihres Erklingens belegt: „Kirchen“. Die Musik in der Kirche war es, für die Bach kategorisch verantwortlich war und deren qualitätvolle Gewährleistung er angesichts der zeitbedingten Verknappung der Mittel und Vakanzen im Aufführungsapparat nicht zu garantieren vermochte. Die Bezeichnung „Verfall“ setzt ein deutliches Signal und beinhaltet letztlich auch die Unumkehrbarkeit der Tendenzen. 

 

Eine bislang nur wenig bedachte Äußerung Johann Sebastian Bachs bedient sich ebenfalls der Bezeichnung „Musiq“. Es ist eine in seiner Calov-Bibel mit roter Tinte eingetragene Bemerkung, die aufhorchen lässt. Bach bringt den alttestamentlichen Text mit seiner Auffassung von Musik in Verbindung. Ja, noch mehr, liefert der Text ihm eine Legitimation seiner Musik, seines Wirkens. Es sind dies die Sätze aus 2. Chronik 5, 13:

„Und es war, als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man eine Stimme loben und danken dem Herrn. Und als sich die Stimme der Trompeten, Zimbeln und Saitenspiele erhob und man den Herrn lobte: „Er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewig“, da wurde das Haus des Herrn erfüllt mit einer Wolke, so dass die Priester nicht zum Dienst hinzutreten konnten wegen der Wolke; denn die Herrlichkeit des Herrn erfüllte das Haus Gottes.“

 

Bachs Eintragung lautet kurz und knapp:

„Bey einer andächtigen Musique 

ist alle Zeit Gott 

mit seiner Gnaden Gegenwart.“

 

Nicht Kirchen-Musiq, sondern andächtige Musique verkörpere den Raum der Gottesgegenwart; und nicht nur das; die Eigenschaft seiner Gnadenfülle wird als das Äquivalent zur Musik bezeichnet. Dies ist eine bemerkenswerte Konkretisierung im Dialog zwischen dem Menschen und Gott. Keine Erwähnung findet die Gemeinschaftsbildung im gottesdienstlichen Gefüge. Und dies überrascht umso mehr, als dass die Textquelle von der priesterlichen Weihe des geheiligten Raumes berichtet. Bachs handschriftlicher Eintrag nimmt darauf keinen Bezug. In diesem Sinne bewirken also nicht die würdige Verwaltung der Sakramente und nicht das ausgelegte Gotteswort ex cathedra Heil in der Gegenwart Gottes. All dies wäre doch naheliegend. Deshalb zeugt die Bibelquelle von den Einweihungsritualen im Tempel. Hingegen ist für Bach in der Bezeichnung „andächtige Musique“ selbst die ersehnte Offenbarung Gottes verborgen. So schreibt Bach in roter Tinte. Und die Farbe ist bei ihm stets Ausdruck für den Offenbarungscharakter des Formulierten schlechthin.

 

Gottes Gegenwart und der Zuspruch von Gnade und Heil sind gerade in der lutherischen Orthodoxie in der Liturgie des Gottesdienstes und des sakramentalen Charakters seiner Struktur verborgen. Priesterlichem und gemeindlichem Wirken in dieser Feier sind die Gottesgegenwart und Gnade anvertraut, beginnend mit dem Initial des trinitarischen Votums zu Beginn.

 

Wenngleich der Thomaskantor sicherlich fern von allen nivellierenden Gedanken war, stellt sich doch die Frage, inwieweit es für ihn nicht die Musik selbst war, die eben den Sinn und die Struktur der gottesdienstlichen Feier zunehmend garantierte, ja, selbst zur gottesdienstlichen Form wurde.

 

In neuester Zeit ist der schweizerische reformierte Theologe Arend Hoyer, der sich in seiner wegweisenden Arbeit Was Musik andächtig macht (2018) des Sachverhaltes annimmt. Wenn er resümiert: „Wie auch immer „Bachs Ort zwischen Orthodoxie und Aufklärung“ (Sigele 1981) beurteilt wird, vermag ich […] in Bachs Musik weder Bruch noch Distanznahme zur alten Ordnung wahrzunehmen …“ (Hoyer, S. 37)

 

Es erscheint schlüssig, dass die benannte Andacht bei Johann Sebastian Bach je länger je mehr Ausdruck einer individuell verstandenen und gefeierten Frömmigkeit war. In diesem Sinne schafft, erweckt Musik Andacht und erwirkt aufgrund ihrer andächtigen Eigenschaften (im Komponieren und Erleben) die ersehnte Begegnung zwischen Gott und Mensch. Der Klang dieser (andächtigen) Musik ist ein Ruf, dem Gott sich nicht zu entziehen vermag. Die Gottesnähe stellt sich ein, auch aufgrund der qualitativen Eigenschaften, also der

Vollkommenheit und Kunstfülle. Die andächtige Musique ist in Bachs Schaffen ein unauflösliches Idiom.

 

Welch eine Gewissheit spricht aus den Worten seines knappen Eintrags! Und wie sehr verlässt sich Bach auf die Worte der Chronik-Textstelle und nimmt sie für sein Wirken als Legitimation!

 

Und so hört die Musik auf, ausschließlich dienstbar zu sein. Sie unterstützt nicht mehr einfach ein liturgisches Geschehen im Gottesdienst. Nach Johann Sebastian Bachs Kommentar hat den Auftrag, die Verkündigung des Evangeliums in Tönen selbst zu gewährleisten. So ist sie selbst zum Gottesdienstraum geworden, in dem Gott sich mit seiner Gegenwart und dem damit verbundenem Wirken seiner Gnade einstellt. Die Adaptionen, Vermittlungs- und Gewährleistungsstrukturen wie die Einhaltung der liturgischen Ordnung und die rechte Verwaltung der Sakramente haben vor dem Hintergrund dieses Satzes zu dominieren aufgehört.

Die andächtige Musique ist Medium und ist selbst zum inneren klingenden Ort geworden und erfüllt sinngemäß alle Voraussetzungen einer gottesdienstlichen Qualität:

 

Gott ist da – alle Zeit.

Die Begegnung zwischen Gott und Mensch, Mensch und Gott stellt sich ein.

Die Liebe, um derentwillen er sich als der gnädige Gott erweist, atmet Erlösung, Rechtfertigung, Versöhnung und weist im Sinne einer nicht nur musikalischen Unio mystica geistliche Lebensperspektiven auf.