Ein autobiographisch notwendiger Exkurs zu Johann Sebastian Bach

Von Prof. Dr. phil. habil. Joachim Dorfmüller KMD

Anmerkung: Die Fußnoten dieses Textes werden in dieser Online-Version aufgrund von Darstellungsproblemen nicht aufgeführt. Schauen Sie dazu bitte in die Printversion des Programms der Barmer Bach-Tage 2024

Wann ich Bachs Musik kennenlernte? Relativ genau kann ich die Frage beantworten: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als Achtjähriger. Und zwar im Klavierunterricht bei meinem Vater, der mich an Bachs „Inventionen und Sinfonien“ BWV 572 ff. heranführte, bald im Orgelunterricht bei ihm auch an die – wie wir heute wissen – Bach zugeschriebenen „Acht kleinen Präludien und Fugen“ BWV 553-560. Deren Kenntnis und überhaupt die Bachscher und barocker Orgel- und Klaviermusik verdankte mein Vater wiederum Gottfried Grote, der 1926 nach Studien u. a. beim Bach-Verehrer Heinrich Georg Boell an die Alte Wupperfelder Kirche berufen worden war und die Leitung des Chores des Barmer Bach-Vereins  übernommen hatte. 

 

Bald schon wurde mein Vater Orgelschüler Grotes, der ihm – wie mein Vater zu sagen pflegte – Bach „einpflanzte“. Nicht nur Bach übrigens, sondern auch Barockmeister wie Böhm, Buxtehude, Pachelbel und Walther. „Eingepflanzt“ im wahrsten Sinne, denn mein durch einen Unfall in früher Kindheit  erblindeter  Vater  musste  sich  alle Musik über die Braille-Schrift    mit  dem  fühlenden  rechten  Zeigefinger  mühsam  einprägen,  für  Sehende  schwerlich  nachvollziehbar: Takt für Takt zunächst die Noten der rechten, dann die der linken Hand, schließlich die Noten des Pedals. 

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Der Name Johann Sebastian Bach in Braille-Vollschrift

Unterricht erteilte Grote meinem Vater übrigens ohne Honorar an der Teschemacher-Ibach-Faust-Orgel der Alten Wupperfelder Kirche, an der er auch ohne Entrichtung von Gebühren üben durfte, nachdem er sich an seinem Ibach-Flügel die Noten der rechten und der linken Hand „eingepflanzt“ hatte. Bald vertrat er Grote bei Trauungen und in Gottesdiensten.

 

So erschloss sich meinem Vater im Laufe der Jahre eine völlig neue Welt, war doch seine pianistische Ausbildung bei seinem Stiefvater Hans Klöckner orientiert an der Klavierschule von Gustav Damm, an Czerny-Etüden sowie an Klassikern wie Clementi, Kuhnau und Mozart, nicht jedoch an Bach und am Barockzeitalter. Prägend-unvergessen für meinen Vater war in dieser Zeit der Hinwendung zu Bach die Begegnung mit dem von Gottfried Grote eingeladenen Bach-Forscher, Theologen und Philosophen Albert Schweitzer, der 1928 auf einer Benefizreise zugunsten seines Urwaldhospitals Lambarene vor dem Barmer Bach-Verein über seine Arbeit dort berichtete und zwei Bach-Konzerte gab: Das erste mit dem Bach-Verein am 17.11.1928 „abends 7 Uhr“ an der Ibach-Orgel der Unterbarmer Hauptkirche4 und am Tag darauf das zweite allein in der Johanniskirche im Barmer Stadtteil Heckinghausen an deren Meier-Orgel, die Schweitzer besonderen Interesses würdigte, da sie zuvor nach Prinzipien der sogenannten Orgelbewegung zur ersten Barmer „Bach-Orgel“ umgebaut worden war. Unvergesslich für meinen Vater, der, neben der Orgel sitzend, Albert Schweitzers beim Bach-Spiel zuhören konnte. Nach Schweitzers Vortrag erwarb er dessen Bach-Monographie 5, die er mit einem Autogramm versehen ließ – ein bibliographischer Schatz, der leider beim Bombenangriff auf Barmen am 30.5.1943 verbrannte. Ein Exemplar dieser Monographie schenkten mir übrigens meine Eltern im Bach-Jahr 1950, wenngleich Sprache und Inhalt des Buches meinen Schülerhorizont gewaltig überschritten, so dass ich wohl nur wenige Seiten gelesen und verstanden haben dürfte. 

 

Nach dem erwähnten Bombenangriff und nach zwei weiteren Bombenangriffen in München (Oktober 1943) und im vogtländischen Lengenfeld (April 1945) hatte es meine Eltern und mich zur Großmutter mütterlicherseits ins sächsische Werdau verschlagen. Von dort war es nicht weit nach Leipzig, wo in dem vom Krieg verschonten Pfarr- und Gemeindehaus der Thomaskirche Verwandte von uns wohnten: die Cousine meiner Mutter, Witwe eines im Krieg gefallenen Küsters der Thomaskirche, und ihre drei Kinder. 

 

Dass in dieser Kirche der „Thomaskantor aller Thomaskantoren“ wirkte, muss mich wohl ebenso beeindruckt haben wie der Singen der Thomaner, woraufhin mich meine Eltern im Herbst 1950 bei einem Thomaspräfekten, der den Thomaskantor Günther Ramin vertrat, vorsingen und am Klavier vorspielen ließen – mit Erfolg, so dass ich im Jahr darauf hätte Thomaner werden können. Doch wurde ich es nicht, weil wir im Juli 1951 legal mit allem Mobiliar in unsere Heimat Wuppertal zurückziehen konnten. Noch wenige Monate zuvor machte ich eine „bachische Erfahrung besonderer Art“, als ich dank Vermittlung der erwähnten Cousine meiner Mutter spontan den nicht zum Dienst erschienenen Assistenten des Thomas-Organisten Karl Richter bei einer Trauung vertreten durfte. „Gerettet“ war die Trauung mit dem in diesem aufregenden Moment gewiss nicht fehlerfrei auswendig6 gespielten C-Dur-Präludium aus den erwähnten „Acht Kleinen“ und simpler Choralbegleitung. 

Einmal mehr erinnerte ich mich dankbar an diese „Sternstunde“ bei meinem Leipzig-Besuch 2022, als mir der Thomasorganist Johannes Lang die Chance bot, mit Bach und Mendelssohn Bartholdy in die Manual- und Pedaltasten der Wilhelm-Sauer-Orgel zu greifen. Ein Thomaner wurde ich also nicht. Aber mehr und mehr wurde ich durch meinen Vater in die kirchenmusikalische Praxis eingeführt, spielte die Orgel in den Andachten des Carl-Duisberg-Gymnasiums, vertrat bald Sonntag für Sonntag in Kirchen quer durch’s Tal und die angrenzenden Höhen. Bis ich am 1.9.1959, ein halbes Jahr nach dem Abitur, an der Barmer Lutherkirche nebenamtlich mit der Auflage angestellt wurde, die Kleine Kirchenmusikprüfung (C-Examen) als Organist und Chorleiter möglichst bald extern nachzuholen.

v.l.n.r.: hätten meine Mit-Thomaner sein können (Symbolfoto von 1953, / Spieltisch der Wolhelm Sauer Orgel | an diesem Spieltisch am 18.9.2022

Das geschah 1960 an der Landeskirchenmusikschule Düsseldorf selbstverständlich u. a. mit Bachs Präludium und Fuge c-Moll BWV 549. Wie mich Bach auch weiterhin bei Examina „begleitete“: Mit der großen Cembalo-Toccata e-Moll BWV 914 pflichtgemäß auswendig im Hauptfach Klavier bei Prof. Erich Rummel im Schulmusik-Staatsexamen 1963 an der Musikhochschule Köln, dort 1971 in der Orgelreifeprüfung (Diplom) bei Prof. Dr. Wolfgang Stockmeier mit Bachs Trio-Sonate C-Dur BWV 529. Es war auch die Zeit meiner Mitwirkung als Bass in Winfried Peschs Wupperfelder Kantorei, als mich Bachs Motetten und Kantaten mehr und mehr faszinierten, danach die Matthäus-Passion und die Hohe Messe in Helmut Kahlhöfers Kantorei Barmen-Gemarke, schließlich diese und andere oratorische Werke aus der Continuo-Perspektive und im obligatorischen Frack mit dem Sinfonieorchester Wuppertal zumeist unter Hanns-Martin Schneidt in der Wuppertaler Stadthalle. Fast selbstverständlich, dass ich Bachs „Große Orgelmesse“ BWV 552 / 371 ff. für mein 1000. Konzert wählte, das ich am 12.3.1988 in der Alten Kirche Wupperfeld gab. 

 

Zu meiner „Bach-Bilanz“ gehört auch, dass ich in meinen Eröffnungs- und Schlusskonzerten der 1972 vom großen Bach-Freund Reiner Bergmann und mir gegründeten und von mir bis 2001 geleiteten Wuppertaler Orgeltage dem Bachschen OEuvre stets breiten Raum ließ. Und dass jüngst die Lutherkirche Heimat der von Matthias Lotzmann ins Leben gerufenen und geleiteten Barmer Bach-Tage wurde, freut mich besonders. In beiden Konzertreihen erklangen übrigens mehrfach B-A-C-H-Hommagen von Liszt, Robert Schumann, van Eijken, Lindeman, Reger und Linke, zuletzt 2020 in Uraufführung das den Barmer Bach-Tagen und mir gewidmete Doppelopus „Introduktion und Passacaglia über B-A-C-H“ op. 202 7 meines norwegischen Freundes Kjell Mørk Karlsen.

 

Bach für die akustischen Medien? Mit Bachs „Piéce d’orgue“ BWV 572 und Präludium und Fuge C-Dur BWV 547 eröffnete ich 1973 meine erste LP, mit den Choralvorspielen zu „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ BWV 642, 690 und 691 im gleichen Jahr ebenfalls an der neuen Alfred-Führer-Orgel meine erste Aufnahme für den WDR. Weitere Bach-Aufnahmen folgten: 1984 für den NDR (Violinsonate BWV 1023 mit Igor Ozim) und für den Slovakischen Rundfunk Košice (Präludium und Fuge Es-Dur BWV 552), ferner 1991 für Nippon Radio Tokyo in der Philharmonie Mito (Pedalexercitium BWV 598, Fantasie C-Dur BWV 573 mit Stockmeier-Ergänzung und Toccata und Fuge d-Moll BWV 565) sowie 2010 für den Deutschlandfunk (Doppelkonzert BWV 1043, 2 mit den Töchtern Birte und Ann-Kristin). 

 

Zum Bach-Jubiläum 1985 erschien beim Label Abakus die LP und in Wiederauflage 1987 meine erste CD „Ein Leben für die Musik – Soli Deo gloria“, 23 Jahre später in Eigenproduktion die CD „Johann Sebastian Bach – Toccata und mehr“. Laut eigener 16 LPs, 2 Doppel-LPs, 49 CDs und 3 Doppel-CDs umfassender Discographie8 liegen insgesamt 55 solistisch respektive mit Anderen eingespielte Werke Bachs in Einspielungen vor.

A propos Toccata: Wie oft mag ich Bachs „Epidemische“ mit und ohne Fuge BWV 565 auf Wunsch oder aus eigenem Entschluss – auch in eigener Klavier-Transkription – jemals in einem meiner bis jetzt über 4200 Konzerte gespielt haben? Von Trauungen und einer Beerdigung abgesehen gewiss mehrere hundert Male. 

Eher marginal dagegen mein „Bach-Output“ für Printmedien: Konzerteinführungen, Begleittexte zu eigenen und Bach-LPs/CDs Anderer sowie Aufsätze für Fachorgane. Als umfangreichster Beitrag entsteht derzeit unter dem Arbeitstitel „Hommage à Bach oder: 24 Präludien mit und ohne Fugen als pianistisches Genre von historischer Dimension” eine Dokumentation der weltweiten Reverenz des Bachschen “Wohltemperierten Klaviers”, die von Nikolaus von Kruffts „24 Préludes et Fugues pour le Pianoforte dans les douze tons des modes majeurs et mineurs“ (1814) bis zu Kjell Mørk Karlsens “Das minimalistische Klavier. 24 Präludien und Fugen in allen Dur- und Molltonarten” op. 216 (2023) reicht.

 

Und Bach in der Lehre? Während meiner Gymnasialjahre in Neuss und Düsseldorf sowie 1969-1978 am Städtischen Gymnasium Wuppertal-Barmen war Bach aufgrund von Lehrplänen zwar selbstverständlich, jedoch – ein Oberprima9-Leistungskurs einmal ausgenommen – nicht vorrangig. Intensiver hingegen 1972–1979 im Kirchenmusikalischen Seminar Wuppertal und 1982-1993 im Orgelunterricht als Künstlerisches Hauptfach an der Musikhochschule Köln, schließlich seit 1978 auf wissenschaftlichem Niveau in der Lehrerausbildung an der Universität Duisburg und seit 1984 an der Universität Münster bis zur Studium-im-Alter-Vorlesung „Bach und seine Söhne“ im Sommersemester 2014. 

 

In Münster betreute ich übrigens als siebente von 15 bei mir geschriebenen Dissertationen „Bach – musikpädagogisch betrachtet“10 der Musiklehrerin Suzanne van Kempen, die ihrem wenige Tage nach dem Rigorosum geborenen Sohn den Namen Sebastian gab. Popularwissenschaftlich angelegt und stets pianistisch und/oder organistisch illustriert waren hingegen vor Laien gehaltene Bach-Vorträge.

Ein Privatissimum aus dem Bach-Jahr 1985 darf ich noch erwähnen. Die Idee, unsere jüngere Tochter Ann-Kristin zu nennen, kam meiner Frau Ursula und mir, nachdem wir – noch ohne jegliche „Bach-Absicht“ – mit den Initialen der Vornamen unserer älteren, 1978 und 1980 geborenen Kinder Birte und Helge Christian gleichsam die Basis zu einem familiären B-A-C-H gelegt hatten. Dass diese Vornamen norwegischen Ursprungs sind, ist freilich unserer Sympathie für Norwegen und Edvard Grieg begründet.

 

Fast acht Jahrzehnte hindurch begleitet mich nun vornehmlich Bachs Klavier- und Orgel-musik als Teile eines wundersam-unendlichen musikalischen Kosmos, von dem man– soweit er überliefert ist, denn vieles ist leider verschollen – kaum glauben mag, dass ihn ein einziger Mensch je hat schaffen können. Wenig, sehr wenig habe ich – aufs globale Ganze gesehen – zum Ruhm dieses über alle Grenzen und Zeiten hinweg faszinierenden Kosmos beitragen dürfen. Umso größer mein Dank, dass mir dazu die Gabe und die Kraft geschenkt wurden.