Das Miserere in c von Johann Christoph Friedrich Bach

Einführungstext zum Karfreitagskonzert 2024 "Musik zur Sterbestunde Jesu"

von Dr. Matthias Lotzmann

 

 

 

Johann Christoph Friedrich Bach, 1774

Das Miserere des Bachsohnes Johann Christoph Friedrich (1732-1795) wurde erst im Zuge der Auktion eines Autographenkonvoluts im Jahre 1975 wiederentdeckt. Bis dahin war zwar die Existenz der Komposition bekannt, das Werk selbst aber galt als verschollen. Vor fünfzig Jahren war das Interesse für die barocke Musik und ihres Aufführungsoptimierung längst geweckt und Auktionen dieser Art an der Tagesordnung, wurden (und werden) Bibliotheken auf diese Werke systematisch durchsucht.

 

Wie auch Johann Sebastian Bach in seiner wunderbaren Bearbeitung (Parodie) des Stabat mater des „Neapolitaners“ Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736), Tilge Höchster, meine Sünden BWV 1083 (präsentiert in den BARMER BACH-TAGEN 2023), nimmt sich auch der sogenannte „Bückeburger Bach“ des Psalm 50 (bzw. Psalm 51 nach lutherischer Zählung) als Textgrundlage eines beeindruckenden Werkzyklus vor. Dieser Psalm 51 hat unter den Bußpsalmen des gesamten biblischen Psalters eine in der Rezeption der Kirchen herausgehobene Bedeutung und ist ein wichtiger Textanker innerhalb des Stundengebetes, aber insbesondere auch in der Leseordnung der Karwoche. Dieses Bußgebet ist also für eine Aufführung anlässlich des traditionellen Gedenkens für die Sterbestunde Jesu bestens prädestiniert. 

 

Geboren im gleichen Jahr wie Joseph Haydn, war Johann Christoph Friedrich, Sohn aus der Ehe Johann Sebastian mit Anna Magdalena der wohl versierteste Cembalist und Organist der Kinder und in der Interpretation der Werke des Vaters unübertroffen. Dieser, da schon gezeichnet von Diabetes, Erschöpfung und Gefäßerkrankungen, muss erleichtert gewesen, dass Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe 1749 den Siebzehnjährigen an seinen Hof holte; wieder ein Sohn gut versorgt. Die Idee dazu mag dem Regenten bei einem Besuch bei Friedrich II. in Potsdam gekommen sein. Wenn schon der Preußenkönig einen Bach-Sohn in seiner Hofkapelle hat, stünde es dem Bückerburger gut zu Gesicht, dem nachzueifern, war man doch auch politisch und militärisch miteinander verbunden.

 

Dies bediente die beiden Leidenschaften des Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe: 

alles Militärische und die Leichtigkeit der italienischen Musik seiner Zeit. Die beiden italienischen Hofmusiker waren schon vor einiger Zeit entlassen worden, und er hoffte mit dem Bach-Sohn einen adäquaten Ersatz gefunden zu haben. Aber gerade Johann Christoph Friedrich stand für den sogenannten „vermischten“ deutschen Stil, in dem er durch seinen Vater ausgebildet war. Es mag eine nicht einfache Arbeitssituation gewesen sein.

 

Die Gattin des Grafen, Marie Barbara Eleonore, war eine feingeistige, dem Pietismus zugetane Person und verlieh dem Bückeburger Hofleben bis zu ihrem frühen Tod 1776 künstlerisches Niveau und Feingeistigkeit. Zu ihr entwickelte Johann Christoph Friedrich nach 1765, dem Jahr der Heirat des Grafen-paares, ein herzliches vom kulturellen Austausch geprägtes Verhältnis. Womöglich ist das heute erklingende Werk eine Frucht eben dieses Austausches.

 

Dieses Miserere dürfte um 1770/71 entstanden sein, gut zwanzig Jahre nach dem Tod des Thomaskantors Johann Sebastian Bach; zu einer Zeit also, da Wolfgang Amadeus Mozart als Vierzehnjähriger ein junger Musiker schon von europäischem Rang war und der „aufgeklärte“ Stil Joseph Haydns insgesamt prägend wurde. Dementsprechend atmet die Musik dieses Bachsohnes eine große Empfindsamkeit, wie überhaupt die Gefühlsbetontheit in jedem der dreizehn Sätze jeweils ein anderes und unverwechselbares Gepräge hat. Man meint, dass die Dramaturgie der Musik den Spannungsbogen des Psalms auf diese Weise nachzeichnet. Der Komponist lässt durchblicken, dass er aus der Meisterschaft der väterlichen Schule kommt, lässt diesen Eindruck aber nicht dominieren. Das Klangbild ist höchst transparent konzipiert und aufgrund der kleinen Instrumentalbesetzung fast fragil zu nennen. Da erstaunt es umso mehr, dass dieser unaufwendig erscheinende Instrumentalapparat zu großen klanglichen Ausbrüchen in der Lage ist und dem Solistenquartett ein gleichberechtigtes Gegenüber ist.

 

Es ist ein meisterlich gearbeiteter Nummernzyklus, der den anderen Oratorien Johann Christoph Friedrich Bachs qualitativ ebenbürtig ist. Das Werk leitet zeitlich die Phase  des schöpferischen Zusammenwirkens Johann Gottfried Herders (1744-1803), dessen Dichtungen der Hofkomponist in den Jahren zwischen 1771 bis 1777, dem Wirkungszeitraum Herders am Bückeburger Hof, in Musik setzt: Die Kindheit Jesu und Die Auferweckung Lazarus. Das dieses intensive Schaffen des Komponisten allesamt keine Gelegenheitswerke waren, sondern zum festen kulturellen Kalender in Bückeburg gehörten, zeigt die Bemerkung im Nekrolog, bei Hofe sei „jeder feyerlicher Tag durch eine Musik verherrlicht“ worden. Dass dazu auch die musikalische Umsetzung der ernsten Anlässe wie das Totengedenken oder die entsprechenden kirchlichen Hochfeste gehörte, belegt, welch hohen Stellwert das Konzertmeisteramt in Bückeburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte. Der verschlafene Ort war damals eine kleine Residenzstadt (wie Köthen für den Vater), die in der Politik und dem staatlichen Machtgefüge in Deutschland kaum eine große Bedeutung hatte, aber in der Kunst und Musik als ein bedeutendes Zentrum rangierte. Die Qualität und Kennzeichen der Werke Johann Christoph Friedrich lassen den Bachsohn als einen Brückenbauer zwischen barocker und aufgeklärter Musik erscheinen, als einen, der es verstand, das Kontinuum im Geschmack mit den „aufgeklärten“ Neuerung so zu versehen, dass aller Wandel nicht von tiefen Umbrüchen gekennzeichnet war, sondern homogen und organisch erschien. Davon zeugen sämtliche seiner heute bekannten Werken, insbesondere auch die Orchestermusik.