… das „andere Preußen“?

Ergänzender Text zur Musik des Kammermusikabends am 21.4.2024

von Dr. Matthias Lotzmann

Wie repressiv die Erziehungsgrundsätze des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. gegenüber seinen eigenen Kindern und in ihrer Ausprägung menschenverachtend und brutal waren, davon zeugen verstörende Berichte von akkreditierten Diplomaten am Potsdamer Hof sowie auch erschütternde Tagebucheintragungen und Briefe der königlichen Kinder selbst. Musikalisch zu Wort kommen heute Wilhelmine (1709-1758) und Anna Amalie (1723-1878). Dass es aber gerade die Musik war, die die Seelen dieser Kinder stabilisiert hat , später auch auf den Thronen sitzend, wissen nicht viele. Das eigene Musizieren stabilisierte jeden der Kinder und trug zur Selbstbehauptung der Menschen bei. Es fand bei allen drei komponierenden Königskindern Ausdruck in einem galanten, berührenden zum Teil empfindsamen Musikstil. Diese Musik verkörpert ein „anderes Preußen“. Die Menschen treten hinter ihrer monarchischen Etikette hervor und geben sich als musisch reflektierende Wesen zu erkennen, jedes der drei Königskinder auf seine unverwechselbare Weise. 

 

Die Flauto traverso ist das Instrument, das nach der Thronbesteigung Friedrichs direkt mit seiner Person in Verbindung gebracht wurde und dessen Klangbild insbesondere für seinen aufgeklärten Absolutismus steht; aber eben auch für die sublimierende Linderung, die mit dem Spiel und Klang der Flöte für ihn verbunden war. Sicherlich wird es deshalb auch eine künstlerische Verneigung Bachs vor den Vertretern des preußischen Königshauses gewesen sein.

 

Neben den Sonaten für Violine und Viola da gamba sind die Werke für Flauto traverso und Cembalo wichtige Bespiele im Kammermusikschaffen Bachs. Auch in diesem Genre setzt er unerreichte Maßstäbe. Sicherlich schwingt auch die königliche Aura jener Zeit in diesen Werken mit. Die Hohenzollernkinder werden diese Werke in ihrem Repertoire gehabt haben. 

 

Gegliedert wird der Abend durch zwei Werkgruppen aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Clavier, die Sammlung von 24 Präludien und Fugen durch alle Dur- und Moll-Tonarten. Die Auswahlkriterien orientieren sich am emblematischen B.A.C.H. und dem SDG des Soli Deo Gloria. Es entsteht zweimal ein harmonischer Spannungsbogen von ganz unverwechselbarer Charakteristik.

 

Dieser Abend und die BARMER BACH-TAGE 2024 enden mit der Sonate A-Dur BWV 1032. 

So unbekannt uns die Bachsche Persönlichkeit bis heute geblieben ist, so eigentümlich ist die Überlieferungsgeschichte dieses Werkes. Der Verbleib des 1. Satzes „ähnelt einem Kriminalfall: Zu Bachs Lebzeiten wurde – warum und von wem? – die schmale Partitur nach Takt 62 von einem größeren Bogen (mit dem Cembalokonzert BWV 1062) abgeschnitten. Ein Ergänzungsblatt muss existiert haben, ist aber wohl unwiederbringlich verschollen. Seither werden die fehlenden ca. 46 Takte mehr oder weniger vorsichtig rekonstruiert.“