Orgelkonzert Matthias Lotzmann – Passion Jesu

Dieses erste Orgelkonzert der BARMER BACH-TAGE 2023 steht ganz unter der Überschrift der Passion Jesu. Es gibt sich durch die Wahl der Tonart e-moll zu erkennen. War dieser Ton im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert doch das bevorzugte Klangbild („phrygische Sekunde“), um sich musikalisch mit dem Leiden Sterben und Sterben Jesu auseinanderzusetzen. Man denke nur an die Wahl des e-moll durch Johann Sebastian Bach für seine Matthäuspassion. 

 

Hierzu seien zwei Äußerungen zitiert, welche die dem e zugewiesenen Charakteristika betreffen: „Das E ist des Saturno Thon, vnd desshalben gleich wie Saturnus in einem Menschen die Traurigkeit, melancholey und das mitleiden erwecket, Also machet dieser Thon auch eine sehr traurige, sehnliche, vnd betrübhaffte melodey, davon das Gemüth des Menschen gar nieder geleget vnd traurig wird, vnd mancher Mensche auch offt dadurch zu weinen gebracht wird, Vnd wenn man einen lustigen Menschen wil traurig machen, so singe oder spiele nur eine Melodey aus diesem Thone, so wird sich sein lustiger muth bald legen“, notiert 1614 der Theologe, Musiktheoretiker, Astronom und Astrologe Abraham Bartolus (um 1578–1630)1

 

Fast genau hundert Jahre später (1713) formuliert Johann Mattheson (1681–1764)2

Es ist eine ›Auslegung‹ des Phrygischen: „Traurigkeit, melancholey und […] mitleiden“. Denn sowohl Bartolus als auch Mattheson verwenden in ihren Beschreibungen so wichtige passionstheologische Kategorien. Das „mitleiden“ (Bartolus) markiert als die ›Compassio‹-Kompetenz einen der zentralen Topoi in der Rechtfertigungstheologie und in der Deutung des Karfreitagsgeschehens. Die Klage und die Traurigkeit, die in der Versenkung in den inneren Nachvollzug und in das Mitgehen des Kreuzweges Jesu zum Ausdruck kommt, sind nicht ohne Rettung, im Gegenteil. Im Dabeisein und Verharren unter dem Kreuz wohnt schon der Aspekt des Heilwerdens inne.

 

Der Mensch bleibt hier in seiner Abgründigkeit nicht sich selbst überlassen, sondern ist gehalten (Mattheson: „daß man sich noch dabey zu trösten hoffet“). So wohnt im e nicht nur das Verhaftetsein im Irdischen und seiner Vergänglichkeit, sondern auch das Initial zur Perspektive auf Tröstung, Rettung und Lösung. Es gemahnt an die Verbindung zwischen Erkenntnis und Errettung in der Theologia crucis Martin Luthers (1483–1546).

Drei äußerst bemerkenswerte Praeludien (und Fugen) auf eben dem Ton e gliedern dieses Konzert. Die Verfasser stehen in einem bedingten Lehrer-Schüler-Verhältnis zueinander:

Der Komponist Dietrich Buxtehude ist der Inspirierende für Nicolaus Bruhns und Johann Sebastian Bach.

In den Rahmen ihrer drei Werke eingespannt, erscheinen die erklingenden Passionslied-

vertonungen wie Labsal, wie gefasste Edelsteine. Und es ist nicht übertrieben, wenn man die freien Werke zu den eindrücklichsten ihrer Gattung zählt. Allen dreien ist ihr bizarres und provokantes Klangbild eigen: Exaltierte Themengestalten, brisante Zuspitzungen,

kolossale Dimensionen (Bach) und scharfe Gegensätze (Bruhns) bilden das Ringen, die Qual,

das Ab- und Aufsteigen ab.

 


1 Abraham Bartolus: Musica Mathematica, Das ist: Das Fundament der allerliebsten Kunst der Musicae, wie nemlich dieselbe in der natur stecke, vnd ihre gewisse proportiones, das ist, gewicht vnd mass habe, vnd wie dieselben in der Mathematica, Fürnemlich aber in der Geometria vnd Astronomia beschrieben sind [...], Leipzig 1614, S. 117.

 

2 Johann Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre, Hamburg 1713, S. 239f.: „[…] kan wol schwerlich was lustiges beygeleget werden/ man mache es auch wie man wolle/ weil er sehr pensif, tieffdenckend/ betrübt und traurig zu machen pfleget/ doch so/ daß man sich noch dabey zu trösten hoffet. Etwas hurtiges mag wol daraus gesetzet werden/ aber das ist darum nicht gleich lustig. Kirch. sagt: [...] Er liebt die Betrübniß und den Schmertz. [...] dem Luciano scheinet er ungestümer Eigenschafft; dem Gloreano [Glarean] wehklagend.“